Und einige der Männer und auch Heide nickten mit aufgerissenen Augen. Eistaucher warf immer wieder Blicke in Salbeis Richtung, denn vor allem ihr erzählte er seine Geschichte, ihr und Heide und natürlich Dorn:
— Sie machten Jagd auf mich,
Ich rannte um mein Leben
Und watete im Bach der Oberen Klamm.
Ich entkam, doch verletzte ich mich am Knöchel,
Sodass ich einen guten Unterschlupf brauchte
Und ihn in der Krone eines geborstenen Baumes fand.
Als es meinem Bein besser ging, verließ ich mein Versteck
Und machte mich auf den Weg zurück hierher,
Und als ich sah, dass mir noch zwei Nächte bevorstanden,
Aß ich eine Hexenmütze und Beifußblätter.
Die letzten Worte richtete er direkt an Dorn, doch der schüttelte den Kopf. — Davon kannst du mir später erzählen, sagte er. — Das ist Schamanensache.
— In Ordnung, sagte Eistaucher. Obwohl das Folgende die bei Weitem herausragende Nacht seiner Wanderschaft gewesen war und eine gute Geschichte abgegeben hätte. Er beschloss, sie später zu erzählen. Jetzt war kein guter Zeitpunkt, um sich dem Alten zu widersetzen. Oder vielleicht doch?
Eistaucher überlegte. Aber ja, jetzt erkannte er, worum es Dorn ging. Er wollte nicht erzählen, welche Angst er vor dem Ding am Flussufer gehabt hatte; er hätte es ohnehin nicht vermitteln können, also hätte er auf die eine oder andere Art lügen müssen. Und bislang hatte er nicht gelogen.
Er sah, dass Dorn ihn genau beobachtete, um festzustellen, ob er begriff, warum er über das Ding in der Nacht schweigen sollte und über sein Entsetzen; er wollte sehen, ob Eistaucher sich verändert hatte oder nicht, und wenn ja, in welcher Weise. Aber nicht nur Dorn konnte eine versteinerte Miene aufsetzen, und so erwiderte Eistaucher seinen Blick einfach, glücklich über die Wärme des Freudenfeuers und den Anblick von Salbei dort im Feuerschein. Noch immer schien alles um ihn herum auf und ab zu hüpfen, zu erblühen und in den Himmel davonfliegen zu wollen, und nun sprangen auch die Menschen des Wolfsrudels, von ihrem inneren Feuer in Brand gesetzt, auf und ab, und jedes Gesicht spiegelte in vollkommener Weise den Charakter seines Besitzers wider, quoll über von dem jeweiligen Selbst, und er war wieder unter ihnen; und obwohl das Ärger mit sich brachte, war es die beste Art von Ärger, die es gab.
Selbst die reizbare Heide war froh, ihn wiederzuhaben, das sah er ihr an, und einmal, als sie bei einer ihrer ständigen Besorgungen nah am Feuer vorbeikam, streckte er einen Arm aus, um sie festzuhalten und sie an sich zu ziehen, weil sie die Einzige war, die ihn nicht umarmt, sondern ihn nur an der Hand berührt hatte. — Ich habe es geschafft, sagte er.
— Ja, ja, du hast es geschafft, antwortete sie und drückte ihn kurz an sich, bevor sie weiterging. — Jetzt bist du zwölf.
Zweiter Teil
Die Wölfe daheim
In der kühlen Morgendämmerung erwachte Eistaucher unter einer Decke von Ascheflocken. Sein Mund war ausgetrocknet, und er hatte Kopfschmerzen. Seine Wanderschaft war vorbei, und er war wieder bei seinem Rudel. Dorn stöhnte und rief nach Wasser. Die grauen Zöpfe, aus denen in alle Richtungen abgebrochene Haare herausstaken, hingen dem alten Mann übers dunkle Gesicht. Er öffnete die Augen, die rot und verklebt waren. Misstrauisch starrte er Eistaucher an; anscheinend fragte er sich noch immer, was ihm auf seiner Wanderschaft widerfahren war. Eistaucher entschied, dem Alten niemals davon zu erzählen. Seine Wanderung gehörte ihm allein. Erst jetzt verstand Eistaucher eines von Heides Sprichwörtern: Niemand anders kann dein Leben für dich leben. Er spürte die Einsamkeit in diesen Worten, die Verlassenheit. Eine weitere Lektion seiner Wanderschaft.
Dorn stieß ein Knurren aus, als sähe er Eistaucher an, dass dieser etwas verschwieg, und missbillige es. Dann schnaubte er wie ein Nashorn und kroch durch das Lager zur Sonnenaufgangsseite, wo Heide ihr Nest hatte. All ihre Sachen waren um sie herum auf Holzborden verstaut, die einen hübschen kleinen Windschutz bildeten. Dort drin befand sie sich jetzt, und als sie Dorn sah, erhob sie sich im Eingang, um ihm den Weg zu versperren. Dorn griff zwischen ihre Beine nach ihrem Wasserkürbis, aber sie trat ihm gegen den Unterarm.
— Ich spreche nicht mit Unaussprechlichen, sagte sie, — aber jeder weiß, dass man sich von meinem Nest fernhalten sollte.
— Ich möchte nur etwas Wasser, jammerte er.
— Niemand rührt meine Sachen an. Man hält sich von meinem Nest fern. Ich habe alles mit Gift bestäubt, von dem man krank wird. Jeder weiß das.
Dorn blieb geschlagen liegen. — Eistaucher, sagte er. — Hol mir bitte einen Eimer Wasser. Du hörst ja, was Heide sagt.
— Hol ihn dir selbst, sagte Eistaucher. — Ich bin nicht mehr dein Lehrling.
— Du bist gerade erst mein Lehrling geworden, hast du das nicht mitbekommen? Tu, was ich dir sage, und werd nicht unverschämt. Er warf Eistaucher einen herrischen Blick aus seinen roten Augen zu. — Das ist es, was deine Wanderschaft dich hätte lehren sollen.
Eistaucher kramte in einer Netztasche nach seinen richtigen Kleidern, die Heide für ihn aufbewahrt hatte. — Sie hat mich gelehrt, dass ich nicht dein Lehrling bin.
Aber in Wirklichkeit war er natürlich genau das. Es sei denn, er gab den Weg des Schamanen endgültig auf, und dann würde er wahrscheinlich auch das Rudel verlassen müssen. Dorns höhnischer, rotäugiger Blick machte ihm das nur allzu deutlich.
Eistaucher zog sich an und stapfte durchs Lager, um Arbeiten für den alten Zauberer zu erledigen. Er fühlte sich, als hätte er sich in einer Schlinge verfangen, obwohl er gewarnt gewesen war. Er konnte förmlich zusehen, wie er in die Falle tappte, und ihm wurde ganz schlecht davon. Manchmal war der Morgen nach einer großen Nacht so, ein Schlachtfest, auf das die Raben schissen, Sonnenlicht, das einem in die Augen stach, das Lager voll schmutziger Asche, die Menschen widerwärtig. An einem solchen Morgen verschwand man am besten schnellstens aus dem Lager, ging hinunter zum Fluss und sprang ins Wasser.
Also tat Eistaucher genau das. Die einzige eisfreie Stelle war über Nacht zugefroren, aber die dünne, durchsichtige Schicht ließ sich leicht aufbrechen. Welch ein Genuss es war, sich ins sandige, seichte Wasser gleiten zu lassen, sich abzureiben, bis das eiskalte schwarze Nass ihn frösteln ließ, und dabei die ganze Zeit zu wissen, dass das Lagerfeuer ihn wieder aufwärmen würde und dass seine Kleider gleich am Ufer lagen. Ah, welch ein Genuss, zu Hause zu sein!
Abgesehen von den Leuten. Obwohl er sich am vorangegangenen Abend wirklich sehr darüber gefreut hatte, sie zu sehen. Leute sind eher Wölfe als Vielfraße, Leute sind eher Löwen als Leoparden, weil sie in Rudeln unterwegs sind. All ihre Gesichter im Flammenschein zu sehen: Er durfte nicht vergessen, wie sich das anfühlte, wie intensiv und tröstlich dieses Gefühl war. Warum war es so schnell wieder verflogen? Es gab so viel, was er von seiner Wanderschaft nicht vergessen durfte. Man würde ihn auffordern, den Rest zu erzählen, was er nicht tun würde; doch erinnern musste er sich. Seine Wanderschaft gehörte ihm, sie war sein Besitz. Und sie hatte ihn einiges gelehrt. Zumindest, wenn er seine Lektionen nicht vergaß. Schon jetzt kam sie ihm vor wie ein lange zurückliegender Traum.
Er humpelte den Hang des Gewundenen Bergs hinauf zu der flachen Stelle, von der aus ein Sims bis zum Schwanz des Steinbisons verlief. Es war ein guter Aussichtspunkt, von dem aus man nicht nur die Große Schlucht in beide Richtungen überblicken konnte, sondern auch die Gewundene Au bis zum grauen Höhenzug dahinter. Dort unten, unterhalb einer kleinen Balme, schmiegte sich ihr Lager an den Fels.
Von hier sah es klein wie ein Kinderspielzeug aus. Das Rudelhaus war ein ordentliches rundes Ding aus Fichtenstämmen und Tierhäuten, mit einem Loch oben im Dach, aus dem Rauch aufstieg. Noch immer kamen Leute herausgetaumelt, benommen vom Tageslicht oder vielmehr von der vorangegangenen Nacht. Im Eingang des Frauenhauses saßen wie immer Gams und Blauhäher. Eistauchers Freunde Falke und Moos schliefen noch zwischen ihren Fellen, auf der Rampe unter der Balme. Da waren Dorn und Heide, und am anderen Ende des Lagers Schiefer und Steinbock, die Holz auf das große Lagerfeuer legten. Eistaucher war mit allen dort unten so vertraut, dass er sie auf jede Entfernung, selbst wenn sie kaum mehr als kleine Punkte waren, erkennen konnte. Und er konnte auch sehen, was sie wahrscheinlich gerade taten und was sie sagen würden, wenn man sie ansprach. Es war zum Schreien.
Читать дальше