Doch in der fünften Nacht im Baum verdichtete sich das Rascheln weiter unten zu einer Katzengestalt, und Eistaucher stellte sich in seinem Nest hin und schüttelte drohend seinen Ast vor dem schwarzen Umriss mit den unheimlichen, weit auseinanderliegenden und funkelnden Augen. Ein großer Kopf einer großen Katze. Ein Löwe, oder schlimmer noch, ein Leopard. In jedem Fall war es eine Katastrophe. Einmal mehr pochte sein Herz heftig, und ihm wurde heiß. Er musste größer erscheinen, als er war, also stellte er sich mit dem Rehfell um die Schultern auf den höchsten Ast, der ihm noch Halt bot. Als er freie Sicht hatte, warf er einige dicke Äste, die er sich aufgehoben hatte, auf die Katze hinab und sah, wie sie mehreren auswich und von einem sogar getroffen wurde. Derweil fluchte er wild auf sie, fuchtelte mit Ständer über seinem Kopf herum und gab alle bösen Laute von sich, die er kannte, ob von Tier oder von Mensch; nicht die ängstlichen Geräusche, sondern die wütenden, die hungrigen Geräusche. Er fluchte zornig, bis er heiser war.
Als schließlich der Morgen graute, schien die Katze verschwunden zu sein. Er wartete bis Mittag, sah aber keine Spur mehr von ihr. Dann kletterte er den Baum hinunter, wobei er sein linkes Bein die meiste Zeit einfach herabhängen ließ. Er hatte das Gefühl, gerade erst hier eingetroffen zu sein und zugleich Jahre in dem Baum verbracht zu haben. So oder so, diese Zeit war vorbei. Kreuch beschwerte sich nun nicht mehr so lautstark, war aber immer noch präsent. Es würde lange dauern, bis Kreuch verschwand, das spürte Eistaucher.
Kaum war er losgegangen, musste er zum Kacken anhalten, und nach diesem anstrengenden Unterfangen fühlte er sich etwas krank, aber auch leerer und schließlich besser, sodass er bereit war, durch den Tag zu humpeln. Sich im Bach waschen, ein paar Sonnenflecken mit Beeren suchen, so viele alte Beeren wie möglich essen. Er wusste, dass Bären dasselbe taten, wenn sie aus dem Winterschlaf erwachten. Aber lieber wollte er einem Bären begegnen als einer Raubkatze. Bären hielten Katzen fern. Trotzdem blieb er nicht lange bei den Beeren. Es waren ohnehin kaum noch welche übrig.
Er kam an eine kahle Felsnase, die aus einem niedrigen Felsrücken hervorragte, der quer über die Hochebene verlief. Auf der anderen Seite der Nase fand er einen Spalt, durch den er hinaufgelangen konnte. Von dort oben konnte er in eine enge Krümmung des Flusses tief unten in der Großen Schlucht hineinblicken und in einige Seitenschluchten auf der anderen Seite des Flusses. Er sah, wo die beiden großen Schleifen des Flusses die Hochebene durchschnitten; das Lager seines Rudels befand sich dahinter, auf der anderen Seite des Steinbisons, der von hier aus nicht zu erkennen war. Die Hochebene hinter ihm entpuppte sich hier als verschneite Heidelandschaft, die wie eine umgedrehte Schüssel zum Fluss hin abfiel. Viele der gefährlichsten Tiere gingen nicht dort hinauf. Außerdem lagen dort überall große Felsbrocken verstreut. Mit Sicherheit würde er einen finden, unter dem er sich verkriechen konnte, in einem Schlupfwinkel, der zu klein für Wölfe und Großkatzen war. Außerdem konnte er die Heide nach Westen hin überqueren, bergauf zu den Eiszitzen, zwei Gletscherkuppen in jener Richtung, ehe er in die westlichen Ausläufer des Obertals hinabstieg und von dort ins Lager seines Rudels, wenn es so weit war.
Also wanderte er nordwärts in die Heide. Der Schnee am Boden war alt und fest und trug ihn selbst am Nachmittag. Von hier aus konnte er nach Süden zurückblicken, über viele Höhenzüge und Täler hinweg. Es sah aus, als würden graue Hände die Große Schlucht und ihren Fluss umschließen. Grüne Säume, weiße Flecken. Kreuch bellte jetzt laut, rief He! He! He! bei jedem Schritt. Eistaucher hatte seinen Rehfellumhang zusammengerollt und ihn sich um die Hüfte gebunden. Er humpelte weiter, immer auf der Suche nach Nischen unter den größeren Felsbrocken, die er passierte.
Bei Sonnenuntergang fand er eine, die ihm gefiel, und kroch durch eine Lücke, die gerade groß genug für ihn war, unter den Felsen. In der Spalte darunter konnte er aufrecht hocken. Der Felsbrocken ruhte mit vier großen Spitzen auf dem Steinboden, wie ein gigantischer Zahn. Eistaucher zog seine Äste durch das Loch und errichtete sich ein Lager aus ihnen. Es würde kalt werden hier oben. Ständer diente ihm nun als Speer, mit dem er seinen Steinbau verteidigen konnte. Der Mond war inzwischen zu drei Vierteln voll und erleuchtete das Zwielicht. Er warf klar umrissene Schatten.
Auch in dieser Nacht heulten irgendwo Wölfe, und er wurde oft von ihnen aus dem Schlaf gerissen. Doch wann immer er auf das Heulen lauschte, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass es von weit her kam. Außerdem war er froh darüber, dass ihre Anwesenheit andere Raubtiere und besonders die Alten abschrecken würde. Es hieß, dass die Alten sich ohnehin weitgehend von der Heide fernhielten, und Eistaucher glaubte es, weil es auf der Hochebene kaum Windschutz gab. Alles in allem war dies heute Nacht also wirklich der richtige Platz für ihn.
Jedes Mal, wenn die Wölfe heulten, bewegte er nacheinander alle Muskeln in seinem Körper, angefangen von seinen tauben Zehen bis hin zu seinem Kiefer, wobei er jedes Mal, vom sonderbaren Lied der Wölfe eingelullt, wieder einschlief, oft noch bevor er auch nur bis zu seinen Bauchmuskeln vorgedrungen war.
Doch einmal, als ihn der Wolfschor weckte, war er verwirrt. Sein Vater saß direkt vor dem Loch zu seiner Höhle und heulte leise mit ihnen mit. Komm zu mir heraus, mein Sohn, sagte er, komm heraus, damit ich dir zeigen kann, welcher Stern ich jetzt bin.
Aber dafür ist es doch zu kalt, wandte Eistaucher ein, und ich bin müde. Ich will nicht aus der Wärme hinaus, die ich hier in diesem Loch geschaffen habe.
Keine Bange, ich sorge dafür, dass dir warm wird, versprach sein Vater. Eistaucher erinnerte sich daran, dass sein Vater genau diese Worte schon einmal zu ihm gesprochen hatte, als er ihn unterm Steinbison prustend und von Todesangst erfüllt aus dem Fluss gezogen hatte, nachdem er durch dessen dünne Eisdecke gebrochen war. Sein Vater hatte ihn an den Knöcheln nach unten gehalten und ihm auf den Rücken geklopft, als wäre er gerade zur Welt gekommen, und während Eistaucher würgte und vor Angst heulte, hatte er gelacht und gesagt, Keine Bange, Kleiner, ich sorge dafür, dass dir warm wird. Also war er es wirklich.
Eistaucher zog sich durch das Loch unter dem Felsen und schlang sein Rehfell wieder um sich. Im hellen Mondlicht leuchteten die Sterne nur schwach, und der ganze Himmel war weiß wie die Sprudelnde Spritzmilch am Sommerhimmel. Sein Vater stand über ihm, ein wenig durchscheinend, sein Kopf berührte den Himmel, und sein Gesicht lag über dem schiefen Grinsen des Mondes. Geh ein Stück mit mir, sagte er.
Soll ich meine Sachen mitnehmen?, fragte Eistaucher.
Nein, ich bringe dich vor Sonnenaufgang zurück.
Bringst du mich zu Mutter?
Ja. Dort, wo wir hingehen, ist sie auch.
Sie flogen über die Heide und in die Furchen des Landes hinab, bis zu einem tiefen Tal mit einem mondhellen Fluss. An einer engen Stelle lief der Fluss unter einem Steinbogen zwischen den Felswänden hindurch: Das war der Steinbison, die Brücke aus Fels, bei der Eistaucher als Kind in den Fluss gefallen war.
Hier hast du mich gerettet, sagte er.
Ja, sagte sein Vater.
Ich muss in der Vollmondnacht zum Rudel zurück, erklärte Eistaucher. Ich bin auf meiner Wanderschaft. Es sind nur noch drei — er blickte zum Mond auf —, drei oder vier Nächte.
Ich weiß. Deshalb habe ich dich gerade jetzt hergebracht. Schon bald wirst du wieder an diesem Ort sein. Ich wollte dich wissen lassen, dass ich hier an deiner Seite bin. Und deine Mutter auch.
Zeig sie mir.
Und dann sah er sie, wie sie auf dem Steinbogen über dem Fluss stand, während das Wasser sich unter dem schwarzen Schatten des Steinbisons mondweiß kräuselte. Sie war nackt und hielt ihm die Arme grüßend entgegengestreckt.
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