Bei der Landung spürte er, wie sich etwas in seinem Fußgelenk verdrehte. Er rollte sich ab, um sich den Knöchel nicht ernsthaft zu verstauchen, und knallte am Ende seiner Rolle mit eben diesem Knöchel gegen einen Baum. Die beiden Schmerzauslöser verschmolzen miteinander und erschwerten ihm das Laufen, aber er musste weiter, also rannte er den Hang hinab ins Untertal. Jedes Mal, wenn er den linken Fuß aufsetzte, durchfuhr ihn der Schmerz, doch trotzdem musste er mit unverminderter Geschwindigkeit und ohne einen Ton von sich zu geben weiterlaufen. Er rannte mit offenem Mund und schnappte dabei lautlos nach Luft. Er brauchte viel Luft, um aus voller Kraft zu rennen, und er musste ein Tempo anschlagen, das er eine Weile durchhalten würde, dabei aber auch um jeden Preis schneller sein als die Alten, selbst wenn sie zum Sprint ansetzten. Angeblich waren die Alten langsamer als Menschen, aber Eistaucher verließ sich auf nichts mehr, was man sich über sie erzählte. So stark, wie sie waren, konnten sie zweifellos ebenso schnell wie Menschen bergauf rennen. Aber jetzt lief Eistaucher bergab ins Untertal. Er humpelte schwer und hoffte, dass er sich nichts im linken Bein gebrochen hatte. Bisher hatte er sich immer für schnell gehalten, aber jetzt kam ihm das nicht mehr so vor.
Als die Alten den Grat erreichten, war er beinahe unten bei seinem alten Lagerplatz angelangt, wo noch immer sein Feuer brannte. Sie waren tatsächlich zu weit südlich herausgekommen, sodass sie nun von der Felswand zu ihm herabblickten und ein Stück auf dem Grat zurücklaufen mussten. Kurz nachdem Eistaucher das gesehen hatte, war er bei seinem alten Lager und schaute sich um. Sie hätten sich hier leicht an ihn anschleichen und ihn töten können, bevor er gewusst hatte, dass sie in der Nähe waren: So sollte man sein Lager nicht aufschlagen, wenn man allein war. Er klopfte mit einem Stock aufs Feuer, um mehr Rauch zu erzeugen und seine Witterung zu überdecken, und auch um die Alten zu verunsichern. Vielleicht würden sie innehalten, um zu überlegen, was er da tat und warum. Angeblich waren sie langsame Denker. Er nahm also einen brennenden Ast und warf ihn über den Bach, und dann warf er noch Äste in drei oder vier andere Richtungen, bevor er weiter die Schlucht hinabhetzte, vorbei an der Einmündung, die vom Alten Pisser gespeist wurde, dem Pfad am Bach folgend. Er spürte das Brennen in seinen Muskeln fast so deutlich wie den Schmerz im Knöchel. Er blutete nicht, hinterließ keine Spur, allerdings war sein rechter großer Zeh aufgeschürft und kurz davor, erste Blutstropfen zu hinterlassen. Als er das sah, bleckte er verzweifelt die Zähne, hielt inne und setzte sich auf den Boden, um das Blut aus der Wunde zu saugen. Er leckte mehrmals darüber, um den Blutfluss zu hemmen, und drückte dann etwas Sand vom Bachufer auf den Riss in der Haut. Anschließend erhob er sich und humpelte weiter. Eigentlich sollte er sowohl schneller als auch ausdauernder sein als diese Alten. Das wussten sie mit Sicherheit auch, weshalb sie hoffentlich aufgeben würden. Aber trotzdem musste er weiterlaufen, um sicherzugehen. Es war Zeit, die Gangart zu wechseln, auf das zurückzugreifen, was man den zweiten Atem nannte, und sich seine Kräfte für einen Lauf durch das Untertal und anschließend den Ost- oder Westhang hinauf einzuteilen. Man konnte nicht überall die Talwände hochsteigen, tatsächlich gingen beide Hänge oben in steile Klippen über, weshalb das Tal nicht leicht zu verlassen war. Aber Eisläufer wusste, dass es im Osten eine Bresche zwischen den Felswänden gab, also hielt er auf die zu, in der Hoffnung, dass die Alten weiter talabwärts laufen würden. Sobald er über den östlichen Höhenzug war, würde er sich auf der verwitterten Hochebene befinden, von der aus er die Große Schlucht und ihre Seitentäler überschauen und einen versteckten Unterschlupf finden konnte.
Beim Laufen entlastete er sein linkes Bein. Er atmete schwer, saugte begierig die bitter benötigte Luft ein. Nach einer Weile spürte er, wie sein zweiter Atem ihn anhob und weitertrug: Das war gut. Immer wieder blickte er zurück. Kein Zeichen seiner Verfolger war zu sehen. Es war schwer zu sagen, wie lange sie ihm auf den Fersen bleiben würden. Sie hatten ihre Speere einsammeln müssen. Warum hatten sie unten in den Schluchten Mammutspeere dabei? Vielleicht stimmte es, dass sie keine anderen Waffen besaßen. Und sie hatten keine Speerschleudern benutzt. Sie waren Beinahe-Menschen, Albtraummenschen, die in die Tagwelt herübergewechselt waren. Oder er war in ihre Welt übergetreten.
Der Weg über die Rampe war frei. Er sah die Bresche zwischen den Felswänden, über die er nach oben gelangen würde. Die Felswände bestanden aus dem vorherrschenden weißen Gestein, das von schwarzen Flechten übersät war. Eistaucher blutete wieder leicht aus dem rechten Zeh, also hielt er im Klettern inne, um einmal mehr Erde in die Wunde zu drücken, damit das Blut verklumpte. Bei dem angestrengten Lauf spritzte es regelrecht aus der Wunde, obwohl es kein besonders tiefer Kratzer war.
Die Rampe führte durch einen Einschnitt zwischen niedrigen Felswänden, und der Hang wurde flacher, sodass er das restliche Stück bis nach oben rennend im Schutz kopfhoher Bäume zurücklegen konnte. Er eilte über den Grat, der hier breit war. Sicherlich hatte er die Alten inzwischen abgehängt. Sie würden nicht an genau diese Stelle kommen, nur um ihn zu suchen.
Trotzdem rannte er weiter, getrieben von der Erinnerung an den Speer, der zu ihm hochgeflogen war. Die Waffe hatte sich um ihre eigene Achse gedreht wie ein Feuerstock. Die lange Hornsteinklinge hätte ihn einfach durchbohrt. Wie sich das wohl anfühlen würde! Bei kleinen Tieren hatte er so etwas schon oft erlebt, er hatte sie selbst aufgespießt und zugesehen, wie sie sich wanden, hatte ihr Schreien gehört, bevor sie starben. Besser, er hielt nicht an. Er musste rennen, wie man bei der Jagd rannte, genauso schnell und gleichmäßig, genauso lange. Bei dem Gedanken an die drohende Gefahr wurde ihm klar, dass er eigentlich sogar noch länger als bei der Jagd rennen musste. Er musste seinen zweiten Atem ganz erschöpfen, laufen, bis der dritte Atem ihn erfüllte, der nur selten auftauchte und schwer zu fassen war. Und auch dann musste er noch weiterrennen.
Schließlich neigte der lange, im Lauf verbrachte Nachmittag sich seinem Ende zu. Das Licht am noch blauen Himmel verblasste, und der Abend brach herein. Während der sich anschließenden Dämmerung lief er weiter, und selbst noch, als die Dunkelheit langsam hereinbrach. Der Mond stand nun schon fast zur Hälfte am Himmel, also beinahe genau über ihm. Noch über eine Woche musste er durchhalten, bevor er zu seinem Rudel zurückkehren durfte! Von jetzt an würde er sich wohl kaum noch einmal sicher genug fühlen, um ein Feuer zu entzünden — nicht, wenn sich irgendwo in der Nähe die Alten herumtrieben. Und sein Knöchel schmerzte noch immer. Bei jeder Bewegung spürte er es.
Aber er lebte. Und notfalls konnte er es eine Woche ohne Essen aushalten. Und auch eine Woche ohne Feuer, zumindest, wenn es nicht wieder stürmte. Selbst wenn es wieder stürmte. Letztlich kam es darauf an, dass er lebte. Er war auf seiner Wanderschaft. Das sollte nicht einfach sein. Er war drei Alten entkommen! Falls er ihnen wirklich entkommen war. Jetzt würde er wirklich etwas zu erzählen haben! Falls er mit seiner Geschichte nach Hause zurückkehrte.
Er sammelte einige trockene Blätter und Zweige und zog sie hinter sich her, in eine Nische zwischen mehreren Felsbrocken unter einem dichten Gestrüpp niedrig gewachsener Fichten. Der ständig vom Hang herabwehende Wind hatte die Bäume auf die Felsen niedergedrückt. Eistaucher riss sich ein Loch in seine Rindenweste, als er in die Nische krabbelte, und seine Beinlinge hingen ohnehin schon in Fetzen. Trotzdem gelang es ihm, sich eine notdürftige Lagerstatt einzurichten, und er fühlte sich gut versteckt. Auf seine Brust geschmiertes Kiefernharz würde seine Witterung überdecken, auch wenn es klebrig war und überall auf seiner Haut piksende Kiefernnadeln kleben blieben. Es würde kalt werden, und sein Knöchel pulsierte mit jedem Herzschlag. Eigentlich hätte er Beifußtee schlürfen und Mistelblüten rauchen müssen, doch im Moment blieb ihm nichts weiter übrig, als die Zähne zusammenzubeißen. Er gab seinen Verletzungen Namen, wie Dorn es immer von ihm verlangt hatte: Die Wunde an seinem Zeh war Spucke, den Schmerz in seinem Knöchel nannte er Kreuch. Spucke und Kreuch sangen ihr kleines Duett, und er versuchte sie zu ignorieren und dem Wind in den Bäumen zu lauschen. Jedes andere Geräusch machte ihn nervös. Dann und wann raschelte es, und gelegentlich pochte ihm dabei das Herz bis zum Hals. Er überlegte, ob es ihm wohl gelingen würde, aus seinem Versteck zu springen, bevor die Speere sich zu ihm hineinbohrten und ihn am Boden festnagelten. Wahrscheinlich nicht. Eistaucher hatte schon Schneehasen aufgespießt, die sich an eben solchen Stellen versteckt hatten. Er wusste, wie so etwas lief. Wahrscheinlich stammte das Rascheln nur von Hasen oder Schneehühnern, vielleicht sogar von Eichhörnchen und Mäusen. Aber es war nicht leicht, mit dem Bild eines Schneehasen vor Augen, dem er einmal einen Speer durch den Hals gejagt hatte, Schlaf zu finden.
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