»Ja.«
»Und wie wollt ihr für das Bein bezahlen, das ich gerade eingerichtet habe? Und für die weitere Pflege eurer Hauswirtin?«
Ren schob seine Hand in die Tasche, um festzustellen, ob er irgendetwas anzubieten hatte, und ertastete McGintys goldene Uhr. Er übergab sie dem Arzt. Doktor Milton ließ den Deckel aufschnappen, betrachtete das Porträt und gab sie ihm zurück.
»Kannst du lesen?«
»Ja«, sagte Ren.
»Dann habe ich eine bessere Idee.«
Doktor Milton zog einen Stuhl an den Schreibtisch, klappte die Platte hoch, holte ein Blatt Papier heraus und tauchte einen Federhalter in ein Tintenfass. Während er schrieb, betrachtete Ren die Bücher ringsum. Sie standen und lagen kreuz und quer in den Regalen, stapelten sich auf dem Boden zu hohen Türmen, wie die Bücher in Mister Jeffersons Antiquariat. Ren beugte sich etwas nach links, um die Titel auf einigen Buchrücken lesen zu können: Gebet und Praxis. Eine Geschichte der Phrenologie. De Humani Corporis Fabrica.
»Hier«, sagte Doktor Milton, drückte ihm den Federhalter in die Hand und trat vom Schreibtisch zurück. »Du kannst auch mit einem X unterzeichnen, wenn du deinen Namen nicht schreiben kannst.«
Auf dem Papier stand, dass Ren ein zwölfjähriger Junge sei und Doktor Milton diese Tatsache bezeuge, und dass er, in voller Kenntnis der Gesetze dieses Landes, seinen Körper nach seinem Ableben dem Krankenhaus von North Umbrage übereigne, auf dass dieser für die höheren Zwecke der Wissenschaft nutzbar gemacht werden, zum tieferen Verständnis und Wissen über die Anatomie beitragen und somit der menschlichen Spezies und der gesamten Menschheit zum Wohle gereichen möge.
Ren blickte von dem Schriftstück auf.
»Du brauchst mir deinen Körper nicht jetzt zu geben«, sagte Doktor Milton. »Es ist ein Versprechen. Für die Zukunft.«
Der Federhalter fühlte sich schwer an, genauso schwer wie damals das Chirurgenmesser, und Ren stellte sich vor, wie es durch seine Haut schnitt, die Muskelschicht ablöste und seinen Brustkorb bis auf die Knochen freilegte. Was für eine Arbeit das wäre! Ren spürte einen Krampf in der Magengegend. Er drückte seinen Arm auf die Rippen. Er war innen nicht hohl, noch nicht, trotz allem, was ihm seinem Empfinden nach fehlte.
Tinte kleckerte auf seine Hand. Ren legte die Finger um die Schreibfeder und schrieb seinen neuen Namen, jenen Namen, der ihm so wenig vertraut war, jenen Namen, den er sich nie für sich hätte vorstellen können.
Oben auf der Privatstation war eine Fensterscheibe gebrochen. Ren spürte den kühlen Lufthauch auf seiner Haut, als er die Tür zu Mrs. Sands’ Zimmer aufdrückte. Hinter den Vorhängen zog der Morgen herauf, der rosige Himmel war mit Grau durchmischt, es roch nach einem aufziehenden Gewitter. Das hauchdünne Zelt, das über Mrs. Sands’ Kopf und Schultern hing, fing das matte Licht auf und leuchtete sanft.
Neben dem Bett, in einem Schaukelstuhl, saß Schwester Agnes. Sie strickte. Ihr Kopf war über die Nadeln gebeugt. Als Ren die Tür hinter sich schloss, blickte sie auf, als hätte er das Zimmer gerade erst verlassen.
»Wie geht es ihr?«, fragte Ren.
»Besser«, sagte Schwester Agnes. »Gelobt sei Gott.«
Ren trat ans Bett und schob die Seitenklappen des Zelts auseinander. Ein feiner Dampfstrahl entwich. Die Luft auf seiner Haut fühlte sich feucht und klebrig an. Eine Woche war vergangen, seitdem er Mrs. Sands ins Krankenhaus gebracht hatte. Ihr Gesicht war friedlich, ihr Haar ordentlich zu zwei Zöpfen geflochten. Sie trug ein sauberes, bis oben hin zugeknöpftes weißes Nachthemd. Neben ihr, auf einem Tisch, stand ein Kessel mit heißem Wasser auf einem Brenner; die lange Tülle blies winzige weiße Wölkchen in das Zelt, die um Mrs. Sands’ Kopf schwebten und ihn einhüllten.
Schwester Agnes sah zu dem Jungen auf, dann auf ihre Stricknadeln hinunter und wieder nach oben, als versuchte sie, beides irgendwie miteinander in Einklang zu bringen. »Du bist gekommen, um dich zu verabschieden.«
»Ja«, sagte Ren.
»Kommst du zurück?«
Ren musste an die Leiche unten im Keller denken, an die in die Haut geätzte Drossel. »Irgendwann.«
Schwester Agnes legte das Strickzeug in eine Tasche. Sie schaukelte auf ihrem Stuhl vor und zurück, wobei die Kufen rhythmisch auf den Boden schlugen, genau wie bei dem Schaukelpferd in der Mausefallenfabrik.
»Glaubt Ihr, sie verzeiht mir, dass ich sie verlasse?«, fragte Ren.
Schwester Agnes presste die Lippen aufeinander. »Das kann ich nicht beurteilen.« Sie hörte auf zu schaukeln und schaute zum Fenster hinaus. Sie strich mit einer Hand über den Rand ihrer Ordenshaube und ließ sie dann in den Schoß fallen. »Dieser Mann, den du beim letzten Mal mitgebracht hast, der war nicht aus Saint Anthony.«
»Nein«, sagte Ren. Der Gedanke, dass Dolly hier nach ihm gesucht hatte, munterte ihn einen Moment lang auf.
»Aber du kommst aus Saint Anthony. Ich glaube, du bist dort aufgewachsen.«
Ren fragte sich, wie sie das herausgefunden hatte. Aber Nonnen und Priester und Ordensbrüder wussten anscheinend immer mehr als die meisten anderen Leute.
»Der heilige Antonius ist der Schutzpatron der verloren gegangenen Sachen«, sagte Schwester Agnes. »Ich fand immer, dass der Name gut zu diesem Ort passt.« Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor und gab es Ren. Er faltete es langsam auf und erkannte die Handschrift von Bruder Joseph.
Liebe Schwester,
ich habe Euren Brief mit großem Interesse gelesen. Der Junge, von dem Ihr sprecht, hat hier bei uns gelebt, bis er vor acht Monaten von einem Verwandten abgeholt wurde. Ich hatte gewisse Zweifel, was die Absichten dieses Mannes betraf, aber es steht mir nicht zu, sie infrage zu stellen, und wie Ihr wisst, ist der Platz in Saint Anthony beschränkt, und wir müssen jede Hilfe annehmen, die Gott uns schickt, gleich in welcher Form.
Ich bin dankbar, dass der Junge den Weg zu Eurer Tür gefunden hat. Solltet Ihr ihn wiedersehen, übermittelt ihm bitte unsere Segenswünsche. Sagt ihm, ich hoffe, dass er guten Nutzen aus seinem Leben der Heiligen gezogen hat, und ich bete jede Nacht, dass sein Glück kein Unglück nach sich gezogen hat, das ja bekanntlich nie allein kommt. (Er wird wissen, was ich meine.)
Seid gegrüßt in Christo,
Bruder Joseph Wolff
»Warum habt Ihr ihm geschrieben?«, fragte Ren.
»Ich musste mich vergewissern, dass du wirklich der bewusste Junge bist.« Schwester Agnes wirkte nervös und begann wieder zu schaukeln, drückte den Stuhl nach hinten, dann wieder nach vorn. »Vor etlichen Jahren kam mitten in der Nacht eine Frau ins Krankenhaus. Sie gab sich als Christin aus, Gott sei gelobt. Aber ihr Kleid war blutbespritzt, und vom Fieber war sie halb von Sinnen. Sie sagte, sie hätte ihr Kind getötet.« Schwester Agnes schob die Finger ineinander und löste sie wieder. »So etwas kommt selten vor. Aber während meiner Zeit hier habe ich schon ein- oder zweimal erlebt, dass eine Frau dazu getrieben wird. Ich habe sie gebeten, mir das tote Kind zu bringen, damit wir es ordentlich bestatten können. Sie hatte es in der Nähe des Tors unter einem Strauch am Straßenrand versteckt. Es war sorgfältig in Decken gewickelt, und als ich sie aufschlug, stellte ich fest, dass das Kind lebte. Es war höchstens ein paar Wochen alt.« Schwester Agnes legte kurz eine Hand auf den Mund, ehe sie fortfuhr. »Man hatte ihm eine Hand abgeschnitten.«
Ren schaute Mrs. Sands an. Er schaute nur Mrs. Sands an. Er rechnete damit, dass sie gleich aufwachen und zu schreien anfangen würde. Aber sie blieb völlig ruhig und reglos.
»Ich nahm das Kind auf den Arm und lief zurück ins Krankenhaus. Die Ärzte konnten sein Leben retten, Gott sei gelobt. Als der Junge außer Lebensgefahr war, legte ich ihn der Frau in die Arme. Sie hielt ihn fest und weinte, weigerte sich aber zuzugeben, dass er am Leben war. Sie zog ihm die Kleider aus, alles bis auf das Nachthemd, und füllte sie mit Steinen aus dem Hof. Sie behielt die Puppe, die sie daraus gemacht hatte, und bat mich, auf das andere Kind aufzupassen, bis sie zurückkehrte. Sie wollte mir weder ihren Namen sagen noch den des Kindes.
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