Es war später Nachmittag, die Geschäfte waren bereits geschlossen, die Feuer angezündet und die Fenster erhellt. Ren spähte um jede Ecke, an der sie vorbeikamen, und hielt Ausschau nach Benjamin. Er hatte gehofft, seine Freunde würden auf ihn warten, doch stattdessen sah er nur überall Hutmänner – vor ihnen, auf beiden Seiten und hinter ihnen –, die die Leute auf den Straßen beiseite scheuchten. McGinty schnaubte beim Gehen, und seine Augen blitzten. Und noch immer hielt er Rens Arm umklammert.
Sie kamen zum Stadtplatz und überquerten den Gemeindeanger. Dahinter erhob sich eine Kirche, deren Friedhof mit einem hohen schwarzen Geländer umgeben war. McGintys Miene wurde entschlossener, je näher sie kamen; sein Bauch ragte weit nach vorn, sein Überzieher flatterte im Wind. Ren sah hinauf zum Kirchturm. Das Bauwerk kam ihm bekannt vor, wie etwas aus einem Traum. Und dann wurde ihm klar, dass dies der Friedhof war, in dem man Dolly begraben hatte. Dort hatten sie ihn ausgegraben. Jetzt stand McGinty neben dem Torschloss, das Benjamin mit einer Nadel geknackt hatte, und sperrte es mit einem Schlüssel auf.
Die Hutmänner verteilten sich im Umkreis der Kirche, und Pilot trat in den Kirchhof und hielt das Tor auf. McGinty schob Ren an der Schulter hinein und schlurfte langsam an den Gräberreihen entlang. Auf beiden Seiten wiederholten sich die Familiennamen: Beckford, Bartlett, Haie, Wood. Ren stolperte über eine Reihe winziger Grabsteine, eine Familie mit lauter Neugeborenen, jeweils im Abstand von einem Jahr.
Schließlich wandten sie sich von der Kirche ab und gingen auf ein Grabmal im hinteren Teil des Kirchhofs zu. Es war so groß wie ein Kutscherhaus, und mehrere Steinstufen führten zu einem kleinen Säulengang mit einer eigenen Pforte hinauf. Daneben standen auf beiden Seiten Marmorvasen, gefüllt mit rosafarbenen und gelben Rosen. Über dem Säulengang erhob sich ein Türmchen, in dessen Mitte eine Glocke hing. Ren sah, wie McGinty einen zweiten Schlüssel aus der Tasche fischte und die Pforte aufsperrte. Die Tür dahinter war mit geschnitzten Engeln verziert, und auf dem Buntglasfenster oben im Türbogen sah man einen Springquell aus der Erde sprudeln.
McGinty stieß den Jungen hinein. Der Boden war aus Granit, der Raum kalt und dunkel. Links an der Wand stand ein großer weißer Tisch. Schmutz und welkes Laub lagen in den Ecken. Die Decke war niedrig, der Raum eng. Der einzige Weg ins Freie war von McGinty versperrt.
»Da ist sie.«
McGinty zeigte auf den Tisch, und da sah Ren, dass es gar kein Tisch war, sondern ein steinerner Sarg. Er trat näher heran und las die Worte: Margaret Ann McGinty. Die Buchstaben waren kunstvoll verziert, die Inschrift darunter mit ruhiger Hand in den Stein gemeißelt: Die Seelen der Gerechten ruhen in Gottes Hand. Ren ließ seine Finger über den Namen gleiten. Der Marmor war glatt poliert. Ren spürte keinerlei Unebenheit, nur die scharfe Kante, dort, wo die Worte tief in den Stein geschnitten waren.
Ren dachte an Margarets Porträt, an ihre stillvergnügte Miene. Er schob seine Hand in die Tasche und berührte McGintys Taschenuhr. Auf dem Weg aus der Abstellkammer hatte er sie vom Tisch gestohlen. Das Metall war warm; das Uhrwerk unter seinen Fingern tickte.
Farbiges Licht sprenkelte McGintys gelben Anzug. Über Margarets Grabstelle hing ein Kreuz an der Wand, aber McGinty würdigte es keines Blickes. Er strich sich nur immer wieder mit der Hand übers Gesicht, als versuchte er die Gefühle wegzuwischen, die sich dort niedergelassen hatten. Dann schob er Ren ans dunkle Ende der Grabkammer.
»Los! Sieh dir das an.«
In dem Raum gab es sonst nichts, außer einem kleineren Sarg an der Stirnwand. Voller Unbehagen ging Ren darauf zu. Die Deckelplatte war aus demselben Stein wie bei Margaret, und als er genauer hinsah, entdeckte er, dass in die Oberfläche ein Name gemeißelt war: Reginald Edward McGinty.
»Und jetzt«, sagte McGinty zu Ren, »wollen wir nachsehen, ob du da drin liegst.«
Pilot kam herein, und mit ihm vier Hutmänner, jeder mit einer langen Eisenstange in der Hand. Sie schoben Ren beiseite, zwängten die Stangen unter die Marmorplatte und hoben sie an. Das scharrende Geräusch, mit dem sie sie beiseiteschoben, hallte von den Wänden wider. Als sie den steinernen Deckel am Boden absetzten, entstieg dem Sarg ein seltsamer Geruch, eine Mischung aus Schimmel und feuchten Teeblättern.
Ren beugte sich vor und spähte hinein. In dem Sarg lag ein kleines, in einen Stoffsack gewickeltes Bündel, das die Form und die Größe eines Säuglings hatte.
Das Bündel war mit einer weichen, grauen Puderschicht bedeckt. An einigen Stellen hatten Insekten oder die Zeit kleine Löcher hineingefressen. Darunter konnte Ren ein Stück Stoff erkennen. Es war dasselbe dicke Leinen, aus dem der Kragen mit seinem Namen bestand. Er musste husten und schmeckte Galle im Hals. Obwohl er wusste, dass er unmöglich in diesem Sarg Hegen konnte, stellten sich die Härchen an seinen Armen auf.
Pilot gab McGinty sein Messer, und der schnitt den Sack auf, indem er unten hineinstach und ihn bis obenhin aufschlitzte. Sobald er damit fertig war, trat er keuchend zurück, doch erst als Ren sein hartes Lachen hörte, fasste er sich ein Herz und schaute hinein. Der Stoff war mitten entzweigerissen, und in der Hülle lagen lauter Steine. Sie hatten unterschiedliche Farben und Formen, einige waren kantig und auseinandergebrochen, andere noch überzogen mit der Erde, aus der man sie geholt hatte, wieder andere so klein, dass sie in Rens Handfläche passten.
Als er genauer hinsah, bemerkte er ein Paar winzige Söckchen. Jemand hatte sich die Zeit genommen, die Steine in Babykleidung einzunähen. Jemand hatte die Ärmelbündchen zusammengezogen, den Saum unten zugenäht und den Halsausschnitt mit Stichen verschlossen. Der Kragen war mit Spitze besetzt, das dazupassende Häubchen mit einem Band festgebunden. McGinty hatte alles aufgerissen, so dass die Steine über den Marmor kullerten. Ohne nachzudenken, griff Ren hinein und nahm einen aus dem Haufen an sich. An dem Stein war nichts Bemerkenswertes. Er war grau und gefleckt. Kein Junge in Saint Anthony hätte ihn aufbewahrt.
In dieser Nacht entdeckte Ren Mäuse in der Mausefallenfabrik. Kaum war die Abstellkammer von außen zugesperrt worden, hörte er die Tierchen über den Boden huschen. Er hob die Lampe hoch, die Pilot ihm dagelassen hatte, und sah eine Mäusemutter und mehrere Kinder, die sich an einem Schokoladentäfelchen gütlich taten. Ren zog den Hocker in die entgegengesetzte Ecke des Raums, setzte sich darauf und zog die Füße hoch.
Er wartete im Dunkeln, mit kalten Zehen und benommenem Kopf. Irgendwann verschob er den Hocker und schichtete nach und nach kleine Holzstücke aus der Kiste mit den kaputten Mausefallen in den Ofen. Mithilfe der Lampe zündete er das Häufchen an, und bald brannte ein kleines Feuer. Er zog seine Schuhe aus und legte die Fußsohlen an die eiserne Ofentür. Ganz langsam, durch die Socken des ertrunkenen Jungen hindurch, wurde die Haut dort warm.
Nachdem McGinty das Grab geöffnet hatte, hatte er erschöpft gewirkt. Er gab Pilot einen Wink und ließ Ren wieder in die Abstellkammer zurückbringen. Jetzt betrachtete Ren die aufgestapelten Kisten, die durchhängende Decke und die verstreuten Mäusekötel. Das hier war ein vergessener Winkel. Ein Ort, um unerwünschte Sachen zu lagern. Er stellte sich vor, wie Tage verrannen und dann Jahre, alle in der Enge dieser vier Wände.
Ren holte die Uhr hervor, die er gestohlen hatte, und ließ den Deckel aufspringen. Das Porträt von Margaret McGinty sah ihn an. Sie hatte einen langen, eleganten Hals, ihr kastanienbraunes Haar war behutsam hinter die Ohren gekämmt. Sie trug eine Perlenhalskette mit passenden Ohrringen. Ren fuhr mit dem Fingernagel ihre perfekte Nase nach.
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