»Woher kommst du?«
Ren hatte zu viel Angst, um zu lügen. »Aus Saint Anthony.«
»Also ein Waisenkind?«
»Ja.«
»Glück gehabt.« Jetzt keuchte McGinty. Er ließ den Armstumpf los und kniff Ren in die Wange.
»Er ist noch ein Kind«, sagte Benjamin leise; die Pistole drückte noch immer an seinen Hinterkopf. »Er ist nichts wert.«
McGinty ließ Ren los, zog eine goldene Taschenuhr hervor und ließ den Deckel aufschnappen. Er betrachtete erst den Jungen, dann die Uhr. Dann verschränkte er die Arme und verfiel ins Grübeln; eine Zeit lang hatte er offenbar nicht das Bedürfnis, mit irgendjemandem zu sprechen. Benjamin schloss die Augen. Die anderen warteten, spürten deutlich die Hitze im Raum.
Ren sah Benjamin an, weil er auf irgendeinen Wink wartete, aber Benjamins Gesicht war starr vor Angst. Ren musste heftig schlucken. Er dachte zurück an die Zeiten, in denen er in Pater Johns Arbeitszimmer auf seine Bestrafung gewartet hatte und die Stille schlimmer gewesen war als die Schläge. Langsam wich er zurück, und damit war der Bann gebrochen. McGinty nickte Pilot zu, und der nahm seine Waffe von Benjamins Kopf.
»Ich zahle Euch mehr, als Ihr von denen bekommt«, sagte Benjamin.
»Ich will Euer Geld nicht«, sagte McGinty.
Benjamin schaute zur Tür. Da stand Pilot und säuberte sein Messer, ohne Benjamin auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. »Ich verstehe nicht recht.«
»Ihr werdet diese Stadt noch heute Abend verlassen«, sagte McGinty. »Ich will Euch nie wieder sehen. Ich will nie wieder Euren Namen hören. Ich will nichts mehr von Euch wissen.«
Pilot machte die Tür auf. Er deutete auf den Teppich. Der Zylinder und der Strohhut hockten sich rechts und links neben Tom und rollten ihn hinein. Es geschah ohne ein Wort, so als hätten sie das schon oft gemacht. Brom und Ichy traten beiseite, und alle sahen zu, wie Tom in der Teppichrolle verschwand. Dann fassten die Hutmänner den Teppich an beiden Enden an und zogen ihn auf den Gang hinaus; die Zwillinge folgten ihnen.
Benjamin nahm Rens Hand. Sie hatten ihm einen Fingernagel ausgerissen. Als sie sich zum Gehen wandten, sah Ren den Bluterguss, der sich über seinen Fingerknöchel ausbreitete, einen kleinen dunklen Fleck. Pilot trat vor die offene Tür. Er zog den Steckbrief, den er vorgelesen hatte, aus der Tasche und faltete das Blatt einmal zusammen. Dann noch einmal.
McGinty lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Der Junge bleibt da.«
Benjamin zögerte. Seine Finger ließen Rens Hand los und wanderten zum Hinterkopf, an die Stelle, an die Pilot ihm zuvor die Pistole gedrückt hatte. Rens Herz schlug so heftig, dass ihm die Ohren pochten.
»Verabschiede dich«, sagte McGinty.
Ren wartete darauf, dass Benjamin etwas sagte. Dass er irgendeine Erklärung abgab. Weshalb das Ganze ein Irrtum war. Weshalb man sie unmöglich trennen durfte. Aber Benjamin sah ihn kaum an.
»Auf Wiedersehen«, sagte er nur.
Im nächsten Augenblick wurde Ren aus dem Raum gezerrt, das Muster des grünen Teppichs unter ihm verschwamm. Pilot schubste ihn die Treppe hinunter und an den Reihen der Mausefallenmädchen vorbei. Die Arbeiterinnen fuhren mit ihrer Arbeit fort, taten, als bemerkten sie nichts, doch Ren sah, dass ein paar verstohlen aufblickten und ihn anstarrten. Die Hasenscharte stand noch an ihrem Platz, und sie sahen einander kurz an, ehe Pilot ihn durch eine weitere Tür stieß und einen Gang entlangschleifte und ihn schließlich in einen Lagerraum schubste, in dem sich Schriftstücke und Schachteln bis zur Decke hinauf stapelten.
»Du hast wirklich Glück«, sagte Pilot. Dann machte er die Tür hinter sich zu und sperrte ab.
Die Kammer hatte keine Fenster. Holzkisten lagen überall auf dem Boden und stapelten sich an den Wänden. In der Ecke standen zwei Aktenschränke, außerdem ein kleiner Schreibtisch und ein Hocker. Neben einem Tintenfass auf dem Tisch lagen mehrere goldene Federhalter, die gleichen wie im Büro. Außerdem gab es einen Kanonenofen mit einem dünnen, an der Wand befestigten Abzugsrohr. Ren öffnete die untere Klappe und sah, dass er voller Asche war.
Ren setzte sich auf den Hocker und legte den Kopf auf den Tisch. Er versuchte das Holz zu spüren, das gegen seine Wange drückte. Sein Körper war so schwer, als würde er mit Seilen zu Boden gezogen. Noch nie hatte er sich so einsam und elend gefühlt.
Ein Teil von ihm hätte nur zu gern geglaubt, dass hinter allem irgendein Plan steckte; dass in ein oder zwei Stunden die Tür aufgesperrt würde und Tom und die Zwillinge und Benjamin ihn draußen mit einem Lächeln erwarteten, mit einem neuen Wagen und einem neuen Pferd, um mehrere Hundert Dollar reicher. Doch als der Vormittag verstrich und er vor lauter Hunger Magenschmerzen bekam, packte ihn die Verzweiflung, und er grübelte darüber nach, auf welch vielfältige Art und Weise seine Kameraden ihn im Stich gelassen hatten.
Je mehr er die Schuld bei den anderen suchte, desto klarer wurde ihm, dass er es mit Dolly genauso gemacht hatte. Er hatte ihn im Stich gelassen. Er hatte ihn allein gelassen. Er hatte seine eigene Haut gerettet. Wahrscheinlich war Dolly inzwischen aufgewacht und irrte die Straße entlang, rief Rens Namen, stolperte über den Kadaver der Stute. Ren musste daran denken, wie Pilot sein Gewehr an ihren Kopf gehalten hatte, genau dorthin, wo ihr der Farmer immer einen Abschiedskuss gegeben hatte.
Ren wünschte sich zurück in Mrs. Sands’ Küche. Er stellte sich vor, wie sie mit ihrem Besen in die Mausefallenfabrik stürzte, die Hutmänner bewusstlos schlug und ihn dann in die Arme nahm. Es wäre genau so wie in einer von Benjamins Geschichten. Er sah ihre krummen Zähne aufblitzen und hörte den Besenstiel auf Pilots Schultern entzweibrechen, ehe sie McGinty zu Boden rang. Er lauschte auf ihre Schritte im Gang. Stellte sich noch mehr Einzelheiten vor, lauschte wieder.
Im Lauf des Tages wurde er immer unruhiger und missmutiger, und irgendwann fing er an, die ringsum aufgestapelten Kisten zu durchsuchen. Er betete zum heiligen Antonius um Hilfe. Dass er ein Messer finden möge oder ein Seil – irgendetwas, das ihm die Flucht ermöglichen würde –, aber die Kisten waren voller Metallfedern und Hobelspäne und Papier. Eine enthielt kaputte Mausefallen, ähnlich der, die er in Mrs. Sands’ Küche gesehen hatte. Er nahm eine, stupste gegen das winzige Metalltürchen und hörte, wie sie zuschnappte, sobald er den Finger wegzog.
Er durchwühlte den Schreibtisch und holte alte Federhalter und Notizbücher heraus. Auf ihren Seiten entdeckte er Zeichnungen von Mausefallen. Unzählige Zeichnungen von lauter winzigen raffinierten Tötungsmaschinerien. Er stieß auf eine grobe Skizze, auf der eine Maus von einer mit Ködern bestückten Rutsche ins Wasser purzelte. Eine zweite, auf der die Maus zerquetscht wurde, indem man an einer riesengroßen Schraube im Deckel der Falle drehte. Die nächste bestand aus einem komplizierten Labyrinth, dessen Gänge immer enger und niedriger wurden, bis die Maus schließlich weder umkehren noch rückwärts entkommen konnte.
Bei den Zeichnungen handelte es sich um Patente oder Entwürfe dafür. Um alle erdenklichen Ideen, wie man die Welt von etwas Unerwünschtem befreien konnte.
Ren begann in dem Abstellraum auf und ab zu gehen. Sobald er zur Wand kam, machte er kehrt, immer schneller, bis er sich buchstäblich im Kreis drehte. Er rieb mit der flachen Hand über seine Narbe, dann hörte er, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Die Tür ging auf, und McGinty kam herein, in der Hand eine Papiertüte von der Größe und Form eines menschlichen Kopfes. Er war geschäftsmäßig gekleidet; sein gelbes Jackett war zugeknöpft, die Bänder an den Ärmeln zugebunden und nach innen geschoben. Er stellte die Tüte auf den Tisch.
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