»Die Anzahl der Tiere, die man mir vorgezeigt hat.«
»Wen habt Ihr befragt?«
»Niemanden. Meine Arbeit besteht im Schreiben, nicht im Befragen.«
Paser würde nichts weiter aus ihm herausbringen; gereizt zog er aus seinem Korb ein mit einer feinen Gipsschicht überzogenes Täfelchen aus Sykomore, einen zugeschnittenen Binsenpinsel von fünfundzwanzig Zentimetern Länge sowie einen Wasserbecher hervor, in dem er die schwarze Tinte anrührte. Als er bereit war, gab er dem Gutsverwalter einen Wink, die Vorführung zu beginnen. Mit einem leichten Klaps auf den Hals des ungeheuren Ochsen an der Spitze trieb dieser den Zug an. Das Tier setzte sich behäbig in Bewegung, von seinen schweren und friedlichen Artgenossen gefolgt. »Herrlich, nicht wahr?«
»Ihr mögt dem Züchter meine Anerkennung ausdrücken«, empfahl Paser.
»Der Dieb muß ein Hethiter oder ein Nubier sein«, meinte Qadasch. »Es gibt viel zu viele Fremde in Memphis.«
»Ist Euer Name nicht libyschen Ursprungs?« Der Zahnheilkundler verbarg seine Verärgerung nur schlecht.
»Ich lebe seit langer Zeit in Ägypten, und ich gehöre zur besten Gesellschaft; ist der Reichtum meines Anwesens nicht der augenscheinlichste Beweis? Ich habe die hochrühmlichsten Höflinge behandelt, das solltet Ihr wissen. Bleibt an Eurem Platz!« Mit Früchten, Lauchbunden, Körben voll Lattich und Gefäßen mit Duftstoffen beladene Träger begleiteten die Tiere. Ganz offenkundig handelte es sich hier nicht um eine einfache Überprüfung der Viehzählung; Qadasch wollte den neuen Richter blenden und ihm das Ausmaß seines Vermögens vorzeigen. Brav hatte sich geräuschlos unter den Sitz seines Herrn geschlichen und betrachtete das nacheinander vorbeiziehende Vieh.
»Aus welchem Landstrich stammt Ihr?« fragte der Zahnheilkundler.
»Ich bin es, der hier die Ermittlung leitet.« Zwei angespannte Ochsen trotteten an den erhöht Sitzenden vorüber; plötzlich legte sich der ältere auf den Boden und sträubte sich weiterzugehen. »Hör auf, dich totzustellen«, sagte der Kuhtreiber; der Gescholtene sah ihn mit furchtsamem Blick an, bewegte sich jedoch nicht. »Schlag ihn«, befahl Qadasch. »Einen Augenblick«, forderte Paser, indem er von dem Bretterboden herabstieg. Der Richter streichelte die Weichen des Ochsen, besänftigte ihn und versuchte mit Hilfe des Kuhhirten, ihn wieder auf die Beine zu bringen. Beruhigt stand das Tier wieder auf. Paser ging an seinen Platz zurück. »Ihr seid recht empfindsam«, meinte Qadasch spöttisch.
»Ich verabscheue Gewalt.«
»Ist sie nicht bisweilen nötig? Ägypten hat sich gegen Eindringlinge schlagen müssen, Männer sind für unsere Freiheit gestorben. Solltet Ihr sie etwa deswegen verdammen?«
Paser richtete sein Augenmerk wieder auf den Zug der Tiere; der Schreiber der Herden zählte. Zum Abschluß der Zählung fehlte im Vergleich zu den Angaben des Eigentümers ein Ochse. »Untragbar!« brüllte Qadasch, dessen Gesicht sich purpurn verfärbte. »Man bestiehlt mich – auf meinem eigenen Grund und Boden –, und niemand will den Schuldigen verraten!«
»Eure Tiere dürften doch gekennzeichnet sein.«
»Selbstverständlich!«
»Laßt die Männer kommen, die die Brandmarkungen vorgenommen haben.«
Sie waren fünfzehn an der Zahl; der Richter sonderte sie so voneinander ab, daß sie sich nicht besprechen konnten, und verhörte sie einen nach dem anderen.
»Ich habe Euren Dieb«, verkündete er Qadasch endlich.
»Sein Name?«
»Kani.«
»Ich verlange die augenblickliche Einberufung eines Gerichts.«
Paser willigte ein. Er wählte einen Kuhtreiber, einen Ziegenhirten, den Schreiber der Herden und einen der Wächter des Gutes zu Geschworenen. Kani, der keineswegs zu fliehen beabsichtigt hatte, stellte sich aus freien Stücken vor dem Gericht ein und hielt dem zornigen Blick Qadaschs stand, der sich etwas abseits hielt. Der Beschuldigte war ein stämmiger, vierschrötiger Mann mit brauner, von tiefen Falten zerfurchter Haut. »Gesteht Ihr Eure Schuld ein?« fragte der Richter. »Nein.«
Qadasch schlug mit seinem Stab auf den Boden. »Dieser Räuber ist unverschämt! Er soll auf der Stelle gezüchtigt werden!«
»Schweigt!« befahl der Richter. »Wenn Ihr die Sitzung stört, unterbreche ich die Verhandlung sofort.« Erregt wandte der Zahnheilkundige sich ab. »Habt Ihr einen Ochsen auf den Namen Qadasch gekennzeichnet?« fragte Paser. »Ja«, antwortete Kani. »Dieses Tier ist verschwunden.«
»Er ist mir entlaufen. Ihr werdet ihn auf dem Nachbarfeld finden.«
»Wie erklärt sich diese Nachlässigkeit?«
»Ich bin kein Kuhhirte, ich bin Gärtner. Meine eigentliche Arbeit besteht darin, kleine Stücke Land zu bewässern; den ganzen Tag über schleppe ich ein Tragejoch auf den Schultern und schütte den Inhalt schwerer Krüge auf den Äckern aus. Am Abend gönne ich mir keine Ruhe; dann muß ich die empfindlichsten Pflanzen gießen, die Bewässerungsrinnen unterhalten, die Erddämme verstärken. Falls Ihr einen Beweis wünscht, untersucht meinen Nacken; er trägt die Spuren zweier Geschwüre. Das ist die Krankheit des Gärtners, nicht die eines Kuhtreibers.«
»Weshalb habt Ihr den Beruf gewechselt?«
»Weil Herrn Qadaschs Verwalter sich meiner bemächtigt hat, als ich Gemüse auslieferte. Ich bin gezwungen worden, mich um die Ochsen zu kümmern und meinen Garten im Stich zu lassen.« Paser lud die Zeugen vor; die Richtigkeit von Kanis Äußerungen wurde bestätigt. Das Gericht sprach ihn frei; als Entschädigung befahl der Richter, daß der entflohene Ochse sein Eigentum und ihm zum Ausgleich für die entgangenen Arbeitstage eine beachtliche Menge Nahrung von Qadasch geschenkt werde.
Der Gärtner verneigte sich vor dem Richter; in seinen Augen las Paser tiefe Dankbarkeit. »Die Entführung eines Bauern ist ein schlimmes Vergehen«, erinnerte er den Gebieter des Anwesens. Dem Zahnheilkundler stieg das Blut zu Kopf. »Ich bin nicht dafür verantwortlich! Ich wußte darüber nicht Bescheid; mein Verwalter möge bestraft werden, wie er es verdient.«
»Ihr kennt den Umfang der Züchtigung: fünfzig Stockschläge und Verlust des Standes, um wieder zum einfachen Bauern zu werden.«
»Gesetz ist Gesetz.«
Vor das Gericht gebracht, stritt der Verwalter nichts ab; er wurde verurteilt und der Spruch unverzüglich vollstreckt.
Als Richter Paser das Gut verließ, erschien Qadasch nicht, um ihn zu verabschieden.
Brav schlief zu Füßen seines Herrn und träumte von einem Festschmaus, während Wind des Nordens, mit frischem Futter belohnt, vor der Tür der Amtsstube als Wächter diente, in der Paser seit der Morgendämmerung die laufenden Vorgänge bearbeitet hatte. Die Menge schwieriger Fälle entmutigte ihn nicht; im Gegenteil, er hatte beschlossen, den Rückstand aufzuholen und nichts beiseite zu schieben. Gerichtsschreiber Iarrot kam mit aufgelöster Miene in der Mitte des Morgens. »Ihr scheint niedergeschlagen«, bemerkte Paser. »Ein Streit. Meine Frau ist unerträglich; ich hatte sie geheiratet, damit sie mir köstliche Gerichte zubereitet, und sie weigert sich zu kochen! Das Dasein wird mir unerträglich.«
»Sinnt Ihr über Scheidung nach?«
»Nein, wegen meiner Tochter; ich möchte, daß sie Tänzerin wird. Meine Frau hat andere Vorhaben mit ihr, die ich nicht dulde. Weder sie noch ich sind bereit nachzugeben.«
»Eine unentwirrbare Lage, so fürchte ich.«
»Ich auch. Eure Untersuchung bei Qadasch ist gut verlaufen?«
»Ich lege gerade letzte Hand an meinen Bericht: Der Ochse wurde aufgefunden, der Gärtner freigesprochen und der Verwalter bestraft. Meiner Meinung nach ist die Verantwortlichkeit des Zahnheilkundlers dabei berührt, doch ich kann es nicht beweisen.«
»Wagt Euch an den nicht heran; er hat Verbindungen.«
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