»Ich bin Richter Paser. Laßt mich durch.«
»Unsere Befehle sind ausdrücklich: Niemand darf hinein. Die Stätte ist beschlagnahmt.«
»Niemand darf sich der Gerechtigkeit in den Weg stellen. Solltet Ihr vergessen haben, daß wir uns in Ägypten befinden?«
»Unsere Befehle …«
»Tretet zur Seite.«
Der Pavian baute sich zu voller Größe auf und fletschte die Zähne; mit starrem Blick und angewinkelten Armen aufrecht dastehend, war er bereit loszuspringen. Kem lockerte zusehends die Kette. Die beiden Krieger gaben nach. Kem stieß die Tür mit einem Fußtritt auf.
Djui saß am Balsamierungstisch und aß Dörrfisch. »Führt uns«, befahl Paser.
Argwöhnisch durchforschten Kem und der Affe den dunklen Raum, während der Richter und die Heilkundige, denen Djui leuchtete, in das Gewölbe hinabstiegen.
»Welch grauenhafter Ort«, murmelte Neferet. »Wo ich doch Luft und Licht so sehr liebe!«
»Um aufrichtig zu sein, auch ich fühle mich nicht sonderlich wohl.«
Der Balsamierer setzte seine Schritte unbeirrt und mit gewohntem Gang in seine ausgetretenen Spuren. Die Mumie war nicht von der Stelle bewegt worden; Paser stellte fest, daß niemand sie angerührt hatte. »Hier ist Euer Kranker, Neferet. Ich werde ihn unter Eurer Aufsicht auswickeln.«
Der Richter nahm die Binden behutsam ab; auf der Stirn erschien ein Amulett in Form eines Auges. Am Hals eine tiefe Wunde, zweifelsohne durch einen Pfeil verursacht.
»Unnötig, weiter fortzufahren; wie alt war der Verblichene Eurer Ansicht nach?«
»Ungefähr zwanzig Jahre«, schätzte Neferet.
Monthmose sann darüber nach, wie die Frage der schwierigen Verkehrslage zu lösen war, die das Alltagsleben der Memphiter vergällte: Zu viele Esel, zu viele Ochsen, zu viele Wagen, zu viele fahrende Händler und zu viele Gaffer verstopften die engen Gäßchen und versperrten die Durchwege. Jedes Jahr faßte er Verordnungen ab, eine undurchführbarer als die andere, und legte sie nicht einmal mehr dem Wesir vor. Er begnügte sich damit, Verbesserungen zu versprechen, an die niemand glaubte. Von Zeit zu Zeit beruhigte eine Maßnahme der Ordnungshüter die Gemüter; dann räumte man eine Straße frei, in der das Halten für einige Tage untersagt wurde, erlegte den Zuwiderhandelnden Bußen auf, bis die schlechten Gewohnheiten schließlich wieder die Oberhand gewannen.
Monthmose ließ die Verantwortung auf den Schultern seiner Untergebenen lasten und hütete sich wohlweislich, ihnen die Möglichkeiten an die Hand zu geben, die Schwierigkeiten zu beseitigen; indem er sich über dem Getümmel hielt und nur seine Gefolgsleute sich hineinstürzen ließ, bewahrte er seinen ausgezeichneten Ruf.
Als man ihm Richter Pasers Anwesenheit im Warteraum ankündigte, trat er aus seinem Arbeitszimmer, um ihn zu begrüßen. Solcherlei Achtungsbezeigungen trugen ihm einiges an Wohlwollen ein. Das düstere Gesicht des Gerichtsbeamten verhieß nichts Gutes.
»Mein Morgen ist sehr ausgefüllt, doch ich will Euch gerne empfangen.«
»Ich glaube, es ist unerläßlich.«
»Ihr scheint erschüttert.«
»Ich bin es auch.«
Monthmose kratzte sich an der Stirn. Etwas unsicher geleitete er den Richter in sein Amtszimmer, aus dem er seinen persönlichen Schreiber sofort verwies. Angespannt ließ er sich auf einem prachtvollen, von Stierfüßen gezierten Stuhl nieder. Paser blieb stehen. »Ich höre Euch zu.«
»Ein Offizier der Streitwagenkämpfer hat mich zu Djui, dem Einbalsamierer des Heeres, geführt. Er hat mir die Mumie des Mannes gezeigt, nach dem ich suche.«
»Die des ehemaligen Oberaufsehers des Sphinx? Dann ist er tot!«
»Zumindest hat man mich das glauben machen wollen.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Da die allerletzten Rituale noch nicht vollzogen waren, habe ich den oberen Teil der Mumie unter der Aufsicht der Heilkundigen Neferet ausgewickelt. Der Körper ist der eines jungen Mannes von ungefähr zwanzig Jahren, der wahrscheinlich von einem Pfeil tödlich verletzt wurde. Ganz offenkundig handelt es sich bei dem Körper nicht um den des Altgedienten.«
Der Vorsteher der Ordnungskräfte wirkte wie vor den Kopf geschlagen.
»Diese Geschichte ist unglaublich!«
»Überdies«, fuhr der Richter unerschütterlich fort, »haben zwei Krieger versucht, mir den Zugang in die Balsamierungswerkstatt zu verwehren. Als ich wieder herauskam, waren sie verschwunden.«
»Und der Name dieses Offiziers der Streitwagentruppe?«
»Ist mir nicht bekannt.«
»Eine erhebliche Wissenslücke.«
»Glaubt Ihr nicht, daß er mich angelogen hätte?« Widerwillig pflichtete Monthmose bei. »Wo ist der Leichnam?«
»Bei Djui und unter seiner Bewachung. Ich habe einen ausführlichen Bericht verfaßt; er beinhaltet die Aussagen der Heilkundigen Neferet, des Balsamierers und meines Ordnungshüters Kem.« Monthmose hob die Augenbrauen. »Seid Ihr mit ihm zufrieden?«
»Er ist vorbildlich.«
»Seine Vergangenheit spricht nicht zu seinen Gunsten.«
»Er steht mir auf wirkungsvolle Weise bei.«
»Hütet Euch vor ihm.«
»Kehren wir, wenn Ihr wollt, zu dieser Mumie zurück.«
Der Vorsteher der Ordnungskräfte verabscheute es, sich in einer Lage zu befinden, die er nicht vollends beherrschte. »Meine Männer werden sie holen gehen, und wir werden sie untersuchen; wir müssen seinen Namen und Stand herausfinden.«
»Desgleichen müssen wir wissen, ob wir einem Todesfall gegenüberstehen, der auf eine Kampfhandlung der Streitkräfte oder ein Verbrechen zurückgeht.«
»Ein Verbrechen! Das denkt Ihr doch nicht im Ernst?«
»Von meiner Seite aus führe ich die Ermittlungen weiter.«
»In welcher Richtung?«
»Ich bin zum Schweigen verpflichtet.«
»Nehmt Ihr Euch etwa vor mir in acht?«
»Eine unangebrachte Frage.«
»Ich bin in diesem Wirrwarr genauso kopflos wie Ihr. Sollten wir nicht in bestem Einvernehmen zusammenarbeiten?«
»Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung erscheint mir vorteilhafter.«
Monthmoses Zorn ließ die Wände des Hauses der Ordnungskräfte erzittern. Noch am selben Tag wurden fünfzig hohe Beamte abgestraft und zahlreicher Vorrechte beraubt. Zum ersten Male seit seiner Eroberung des hierarchischen Gipfels der Ordnungskräfte war er nicht auf einwandfreie Weise unterrichtet worden. Verurteilte ein solches Versagen sein Herrschaftsgefüge nicht zum Untergang? Er würde sich jedoch nicht kampflos stürzen lassen. Leider schien das Heer Anstifter all dieser Ränke zu sein, deren Gründe weiter unverständlich blieben. Sich auf diesem Gebiet vorzuwagen, brachte Gefahren mit sich, die Monthmose nicht eingehen wollte; falls der Heerführer Ascher, den seine kürzlichen Beförderungen unangreifbar machten, der maßgebliche Kopf war, bestand für den Vorsteher der Ordnungskräfte keinerlei Aussicht, ihn zur Strecke zu bringen. Dem kleinen Richter freien Lauf zu lassen, bot etliche Vorteile. Er verstrickte sich nur selbst und ließ im Ungestüm der Jugend kaum Vorsicht walten. Er lief Gefahr, verbotene Türen aufzustoßen und Gesetzmäßigkeiten, von denen er nichts wußte, zu übergehen. Wenn er ihm auf der Spur bliebe, könnte Monthmose die Ergebnisse seiner Ermittlung insgeheim ausnutzen. Deshalb konnte er ihn sich ebensogut zu einem sachlichen und unabhängigen Bundesgenossen machen, bis er ihn nicht mehr benötigen würde.
Eine verwirrende Frage blieb jedoch bestehen: Weshalb war dieser Vertuschungsversuch eingefädelt worden? Der Initiator hatte Paser jedenfalls falsch eingeschätzt in der festen Überzeugung, daß die Fremdheit und erstickende Unheimlichkeit des Ortes, die beklemmende Gegenwart des Todes, den Richter davon abhalten würden, sich genauer mit dieser Mumie zu befassen, und ihn dazu brächte, seine Petschaft anzubringen und flugs zu verschwinden. Das genaue Gegenteil war eingetreten; weit entfernt, die Angelegenheit gleichgültig auf sich beruhen zu lassen, hatte der Amtmann deren Ausmaß sehr wohl erahnt.
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