»Wir sind angekommen.«
Der Streitwagen hielt vor einem Haus mit winzigen Fenstern, fernab jeder Siedlung; an den Wänden lehnten mehrere Sarkophage. Der Wind wirbelte Sandwolken auf. Nicht ein Strauch, nicht eine Blume; in der Ferne: Pyramiden und Gräber. Ein steiniger Hügel verwehrte die Sicht auf die Palmenhaine und die Felder. Die am Saum des Todes, im Herzen der Einsamkeit gelegene Stätte schien verlassen. »Hier ist es.«
Der Offizier klatschte in die Hände. Beunruhigt stieg Paser aus dem Wagen. Der Ort eignete sich trefflich für einen Hinterhalt, und niemand wußte, wo er sich befand. Er dachte an Neferet; zu verschwinden, ohne ihr seine Leidenschaft offenbart zu haben, wäre ein Scheitern in alle Ewigkeit. Die Tür des Hauses öffnete sich quietschend. Auf der Schwelle verharrte ein magerer Mann mit sehr weißer Haut, nicht endenden Fingern und schmächtigen Beinen. Von seinem nur aus Länge bestehenden Gesicht stachen schwarze, buschige Augenbrauen ab, die über der Nase zusammenwuchsen; die schmalen Lippen wirkten blutleer. Auf seiner Ziegenlederschürze befanden sich bräunliche Flecken. Die schwarzen Augen hefteten sich auf Paser. Der Richter hatte niemals zuvor einen derart eindringlichen, eisigen und gleich einer Klinge schneidenden Blick wie diesen erdulden müssen. Er hielt ihm stand. »Djui ist der amtlich bestallte Balsamierer«, erläuterte der Offizier der Streitwagentruppe. Der Mann neigte den Kopf. »Folgt mir, Richter Paser.«
Djui trat beiseite, um den Offizier und den Amtmann durchzulassen, der sich unversehens in der Werkstatt des Balsamierers wiederfand, wo dieser auf einem steinernen Tisch die Körper mumifizierte. Eisenhaken, Obsidianmesser und scharf zugeschlagene Steine hingen an den Wänden; auf Gestellen ruhten Öl- und Salbentöpfe sowie pralle Säckchen mit Natron, das für die Mumifizierung unerläßlich war. Dem Gesetz zufolge mußte der Balsamierer außerhalb der Stadt wohnen; er gehörte einer gefürchteten, aus ungeselligen und schweigsamen Wesen bestehenden Gemeinschaft an.
Die drei Männer stiegen die ersten Stufen der Treppe hinunter, die in ein riesiges Kellergewölbe führte. Die Stufen waren glatt und ausgetreten. Die Fackel, die Djui hielt, schwankte. Auf dem Boden lagen Mumien unterschiedlicher Größe. Paser schauderte. »Ich habe einen Bericht über die Vorgänge um den ehemaligen Oberaufseher des Sphinx erhalten«, erläuterte der Krieger. »Das Gesuch ist Euch irrtümlich zugestellt worden. In Wahrheit ist er bei einem Unfall verstorben.«
»Ein in der Tat grauenvoller Unfall.«
»Weshalb sagt Ihr das?«
»Weil dieser mindestens drei Altgediente, wenn nicht mehr, getötet hat.«
Die Haltung des Mannes versteifte sich. »Darüber weiß ich nichts.«
»Und die näheren Umstände des Verhängnisses?«
»Es mangelt an genauen Kenntnissen. Man hat den Oberaufseher tot an der Stätte aufgefunden, und sein Leichnam wurde hierhin überführt. Unglücklicherweise hat ein Schreiber sich vertan; statt die Bestattung anzuordnen, hat er um eine Versetzung ersucht. Ein einfacher Irrtum der Verwaltung.«
»Und der Leichnam?«
»Ich legte Wert darauf, ihn Euch zu zeigen, um dieser bedauerlichen Angelegenheit ein Ende zu machen.«
»Mumifiziert, selbstverständlich?«
»Selbstverständlich.«
»Ist der Leib in einen Sarkophag gebettet worden?« Der Offizier schien ratlos. Er sah den Balsamierer an, der verneinend den Kopf schüttelte. »Die letzten Rituale sind also noch nicht vollzogen worden«, schloß Paser. »Das ist wahr, aber …«
»Nun, dann zeigt mir diese Mumie.« Djui führte den Richter und den Krieger in die Tiefe des Kellers. Endlich wies er auf die Mumie des Oberaufsehers, die mit Binden umwickelt in einer Nische stand. Sie trug eine mit roter Tinte geschriebene Zahl. Der Einbalsamierer reichte dem Offizier das Schildchen, das an der Mumie befestigt werden würde. »Es bleibt Euch nur noch, Euer Petschaft aufzudrücken«, legte der Soldat dem Gerichtsbeamten nahe. Djui hielt sich hinter Paser. Das Licht flackerte zunehmend. »Veranlaßt, daß diese Mumie hier und in diesem Zustand bleibt. Falls sie verschwinden oder man sie beschädigen sollte, werde ich Euch dafür zur Verantwortung ziehen.«
»Könntet Ihr mir den Ort angeben, wo Neferet arbeitet?«
»Du wirkst bekümmert«, bemerkte Branir. »Es ist sehr wichtig«, beharrte Paser. »Ich verfüge vielleicht endlich über ein stoffliches Beweismittel, aber ich kann es ohne die Mithilfe eines Heilkundigen nicht verwerten.«
»Ich habe sie gestern abend gesehen. Sie hat mit vollendeter Meisterschaft einer Ruhrseuche Einhalt geboten und an die dreißig Krieger in weniger als einer Woche geheilt.«
»Krieger? Welchen Auftrag hatte man ihr anvertraut?«
»Eine von Neb-Amun aufgezwungene Drangsalierung.«
»Ich werde ihn durchbleuen, bis ihm alle Schlechtigkeit vergeht.«
»Stimmt dies tatsächlich mit den Aufgaben eines Richters überein?«
»Dieser Tyrann verdient es, verurteilt zu werden.«
»Er hat sich nur damit begnügt, seine Amtsgewalt auszuüben.«
»Ihr wißt, daß das nicht stimmt. Sagt mir die Wahrheit: Welche neuerliche Prüfung hat dieser Unfähige ihr auferlegt?«
»Er hat sich geläutert, so scheint es; Neferet bekleidet nun das Amt einer Arzneiheilkundigen.« In den Wirkstätten [42] Nahe dem Tempel befanden sich Laboratorien, die zur experimentellen Erprobung und Herstellung verschiedenartiger Heilmittel bestimmt waren. Ihre Erforschung steckt infolge der Übersetzungsschwierigkeiten bei den Fachtermini noch in den Kinderschuhen.
der Arzneikunde nahe dem Tempel der Göttin Sechmet wurden Hunderte von Pflanzen aufbereitet, die als Grundstoffe der nach Vorschrift zu bereitenden Heilmittel dienten. Tägliche Lieferungen gewährleisteten die Frische der den Stadt- und Landärzten zugestellten Arzneien. Neferet überwachte die genaue Ausführung der Verordnungen. Gemessen an ihrem vorhergehenden Amt, handelte es sich bei dieser Tätigkeit um eine Rückstufung; Neb-Amun hatte sie ihr als Pflichtabschnitt und Zeit der Ruhe dargestellt, bevor sie erneut Kranke pflegen durfte. Ihrer Lebensregel treu bleibend, hatte die junge Frau nicht aufbegehrt.
Am Mittag verließen die Arzneikundler die Wirkstätten und begaben sich ins Haus der Speisung. Hier plauderte man gerne mit Berufsgenossen, besprach neue Heilmittel, beklagte die Mißerfolge. Als Paser eintraf, unterhielten sich zwei Fachleute mit der lächelnden Neferet; Paser war sich sicher, daß sie ihr den Hof machten.
Sein Herz schlug schneller; dennoch wagte er, sie zu unterbrechen. »Neferet …« Sie hielt inne. »Sucht Ihr mich?«
»Branir hat mir von den Ungerechtigkeiten berichtet, die Ihr erduldet habt. Sie empören mich zutiefst.«
»Ich hatte das Glück, heilen zu können. Alles übrige ist nicht von Wichtigkeit.«
»Eure Wissenschaft ist mir unerläßlich.«
»Solltet Ihr leidend sein?«
»Eine heikle Untersuchung, die die Mithilfe eines Heilkundigen erfordert. Eine einfache Begutachtung, nichts weiter.«
Kem lenkte den Wagen mit sicherer Hand; der niederkauernde Pavian vermied es, auf die Straße zu schauen. Neferet und Paser standen Seite an Seite, mit Riemen um die Handgelenke, die am Kasten des Gefährts befestigt waren, um einem Sturz vorzubeugen. Bei den Rucken und Stößen streiften sich ihre Körper flüchtig. Neferet schien das gleichgültig, während Paser eine so geheime wie heftige Freude verspürte. Er wünschte, diese kurze Reise möge nie enden und die Piste schlechter und schlechter werden. Als sein rechtes Bein das der jungen Frau berührte, zog er es nicht zurück; er befürchtete einen Verweis, der jedoch nicht kam. Ihr so nahe zu sein, ihren Duft zu riechen, zu glauben, sie dulde diese enge Fühlung … Ein herrlicher Traum … Vor der Werkstatt des Balsamierers standen zwei Soldaten Wache.
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