Aurelius zuckte zusammen, als er Wulfila erkannte, und sah instinktiv auf den Bogen, den Livia über der Schulter trug.
»Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte das Mädchen, das seine Gedanken erraten hatte. »Selbst wenn ich ihn niederstrecken könnte, würden die anderen uns keine Chance lassen, und vielleicht würden sie dann ihre ganze Wut an dem Jungen auslassen.« Aurelius biß sich auf die Lippen.
»Der Augenblick wird schon noch kommen«, sagte Livia mit Nachdruck. »Jetzt müssen wir Geduld haben.«
Aurelius blickte eine Zeitlang auf die schwankenden Umrisse des Wagens, bis er sie hinter einer Biegung der Straße verschwinden sah. Livia legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich habe den Eindruck, daß es zwischen euch beiden um Leben oder Tod geht, ja, eigentlich nur um Tod, habe ich recht?« »Ich habe einige seiner treuesten Leute umgebracht, ich habe versucht, den Gefangenen, den man in seine Obhut gegeben hatte, zu entführen, und als er seinerseits versucht hat, mich daran zu hindern, habe ich ihm das Gesicht aufgeschlitzt und ihn bis zum Ende seiner Tage zum Monstrum gemacht: Glaubst du nicht, daß das reicht?«
»Soweit deine Seite. Und wie sieht es auf seiner Seite aus?«
Aurelius antwortete nicht. Er kaute auf einem trockenen Grashalm herum und blickte hinunter ins Tal.
»Erzähl mir bloß nicht, daß ihr euch nie zuvor begegnet seid!«
»Es ist schon möglich, aber ich erinnere mich nicht daran. Barbaren sind mir in den vielen Jahren des Krieges haufenweise über den Weg gelaufen.« Und in diesem Augenblick sah er sich noch einmal Wulfila von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, damals, im Korridor des Kaiserpalastes, als sie Schwert gegen Schwert kämpften, und er hörte, wie die rauhe Stimme des Gegners sagte: »Ich kenne dich, Römer, ich habe dich schon einmal gesehen!«
Livia baute sich vor ihm auf und sah ihm mit mitleidloser Eindringlichkeit in die Augen. Aurelius wandte den Blick ab.
»Du hast Angst, in dein Inneres hineinzuschauen, und möchtest auch nicht, daß andere das tun. Warum?«
Aurelius drehte sich plötzlich um. »Würdest du dich nackt ausziehen - vor mir?« fragte er sie, und seine Augen sprühten Funken. Livia hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ja«, antwortete sie, »wenn ich dich lieben würde.«
»Aber du liebst mich nicht. Und ich liebe dich auch nicht. Stimmt' s?«
»Stimmt«, erwiderte Livia mit ebenso fester Stimme.
Aurelius nahm Juba am Zaumzeug und wartete, bis das Mädchen seinen Fuchs losband. Dann sagte er zu ihr: »Wir haben ein gemeinsames Ziel und eine Aufgabe zu erfüllen, die uns eine Zeitlang beieinander halten wird. Wir müssen unbedingt zusammenstehen und uns mit absoluter Sicherheit aufeinander verlassen können. Deshalb müssen wir beide vermeiden, im anderen Unbehagen und Unzufriedenheit zu wecken. Verstehst du, was ich meine?«
»Und ob«, antwortete Livia.
Aurelius begann, den Hang zu Fuß hinabzusteigen, und hielt dabei Juba am Zügel fest. »Wenn wir einen Versuch unternehmen wollen«, sagte er, das Thema wechselnd, »dann auf jeden Fall noch während der Reise, denn sobald der Konvoi sein Ziel erreicht hat, wird die Sache unmöglich.«
»Zu zweit gegen siebzig? Das scheint mir keine gute Idee zu sein. Und deine Wunde ist noch nicht einmal verheilt! Nein. Wir können nicht riskieren, ein zweites Mal zu scheitern.«
»Und was schlägst du dann vor? Du wirst doch auch einen Plan haben. Oder lassen wir es einfach darauf ankommen?«
»Erstens müssen wir wissen, wohin sie wollen; dann werden wir herausfinden, wie wir bei ihnen eindringen und den Jungen entführen können. Es gibt keine andere Möglichkeit: In Ravenna gab es keine Männer, die sich hätten anheuern lassen, und selbst wenn es sie gegeben hätte, so war doch die Zahl von Odoakers Spitzeln so groß, daß das Komplott sofort aufgedeckt worden wäre. Auch wenn es dir komisch vorkommt: Unser Vorteil besteht genau in der Tatsache, daß niemand von unserer Existenz weiß und niemand argwöhnt, daß zwei Reisende ein solches Unternehmen wagen könnten. Es wäre dir beinahe gelungen, deinen Versuch erfolgreich zu Ende zu führen, eben weil niemand mit einer solchen Möglichkeit gerechnet hatte. Wenn wir Männer anwerben, dann sehr weit von Ravenna entfernt, wo niemand etwas von uns weiß.«
»Und mit welchem Geld wirst du sie anwerben?«
»Das Geld wird in verschiedenen Orten Italiens für uns verfügbar sein. Antemius hat in vielen Banken Depots, und ich habe seinen Kreditbrief bei mir. Du weißt doch, was das ist, oder?«
»Nein. Aber das Wichtigste ist, daß du über Geld verfügen kannst. Ich habe die Hoffnung, meine Kameraden wiederzufinden, noch nicht aufgegeben.«
»Ich auch nicht. Ich weiß, wie wichtig das für dich ist.« Sie sagte es in einem Ton, der verriet, daß ihre Gefühle stärker waren als die Kameradschaft unter Kämpfern, die sie seit einigen Tagen miteinander verband.
So ritten sie über mehrere Etappen weiter, legten ungefähr zwanzig Meilen am Tag zurück und hielten dabei immer einen beträchtlichen Abstand von dem Konvoi. Selbst die Wachsamkeit der Barbaren rund um die Kutsche schien teilweise nachgelassen zu haben: Die Sicherheit dieser starken Eskorte, die mächtige Präsenz Wulfilas und das absolute Fehlen jeglicher Bedrohung, soweit der Blick reichte, trugen dazu bei, daß sich die Spannung und manchmal sogar die Disziplin lockerten.
Sie überquerten den Apennin und stiegen hinab ins Tibertal.
»Wenn wir meine Gefährten finden sollten«, sagte Aurelius plötzlich, »würdest du mir helfen, sie zu befreien?«
»Stell dir vor: Ja! Es kommt darauf an, wie viele wir finden, falls wir sie überhaupt finden. Mach dir nicht zu viele Illusionen, ich muß dir das noch einmal sagen: Miseno ist eine Möglichkeit, aber eben nur eine Möglichkeit unter mehreren.«
»Es ist schon seltsam: Einerseits möchte ich sie wiederfinden, andererseits habe ich auch Angst davor ... Angst, von ihnen zu erfahren, welches Ende die übrigen genommen haben.«
»Du hast getan, was du konntest«, sagte Livia, »quäle dich nicht. Was gewesen ist, ist gewesen, und wir können es nicht mehr ändern.«
»Für dich ist es leicht. Aber die Legion war mein Leben. Alles, was ich hatte.«
»Hast du nie eine Familie gehabt?«
Aurelius schüttelte den Kopf.
»Eine Frau ... eine Geliebte?«
Aurelius wandte den Blick ab. »Gelegentliche Begegnungen. Keine Bindung. Es ist schwer, sich an jemanden zu binden, wenn man keine Wurzeln hat.«
Eine Zeitlang ritten sie im Gleichschritt weiter, ohne etwas zu sagen. Dann unterbrach Livia erneut das Schweigen. »Eine Legion ...«, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf. »Das kommt einem unwahrscheinlich vor, denn seit Kaiser Gallienus' Reform ist von den alten Legionen kaum der Name übriggeblieben, und in den letzten vierzig Jahren ist auch der allmählich verschwunden. Was für einen Sinn soll es gehabt haben, eine neue Legion auf die Beine zu stellen?«
»Und trotz alledem war es ein außergewöhnliches Unternehmen! Zunächst einmal eignet sich das italienische Terrain fast nie zum Aufmarsch großer Reiterkontingente. Zudem wäre der Zusammenprall entsetzlich gewesen: Orestes wollte, daß die Leute einen silbernen Adler in der Sonne glitzern sahen; er wollte, daß die Römer ihren Stolz zurückgewannen, wieder ihre Fußsoldaten marschieren sahen mit den alten Rüstungen und den großen Schilden, die Truppen, die den Erdboden unter ihrem gleichmäßigen Schritt erbeben ließen. Er wollte die Disziplin der Barbarei, die Ordnung dem Chaos entgegensetzen. Wir alle waren stolz dazuzugehören. Unser Kommandant war ein Mann, der die alten Tugenden und einen unglaublichen Mut besaß: Er war streng und gerecht und eifersüchtig auf seine eigene Ehre und die seiner Leute bedacht.«
Читать дальше