Er schwieg eine Zeit lang und blickte nach Osten über die Ebene zur blassen Sonne. Dann warf er die letzten Myrrhekörner ins Feuer.
»Die Sonne ist ein passendes Bild, meinst du nicht? Denn was ist Gott, wenn nicht das Licht, das alles andere angemessen hervortreten lässt? Als ich ein Knabe war, behaupteten die Priester und Bischöfe, die alten Götter seien erlogen, bloß törichte Märchengestalten. Sie machten sich über sie lustig und fragten: Riechen die Götter die Blumen, die wir ihnen im Frühling opfern? Ist der donnernde Zeus mit seiner Hekatombe zufrieden, und riecht Helios den süßen Weihrauch? Ich kenne die Antworten auf diese Fragen nicht, aber eines weiß ich: Indem wir etwas verehren, das größer ist als wir selbst, folgen wir dem hehren Pfad, der uns zum Guten führt.« Kurz schwieg er; dann drehte er sich zu mir um und sagte: »Constantius hat meinen Vater ermordet. Wusstest du das?«
Ich nickte, denn ich hatte davon gehört. Außerdem war mir zu Ohren gekommen, dass der Kaiser Julian während seiner Kindheit auf ein fernes Gut in Asien verbannt hatte, wo er von der Welt abgeschnitten gewesen war. Jetzt erzählte er uns davon – und noch mehr.
»Auf Befehl des Kaisers wurde ich zum Christen erzogen. Ich glaubte alles, was meine priesterlichen Lehrer sagten, nahm es in mich auf wie ein Kind die Muttermilch. Wie sollte ich auch nicht? Ich kannte nichts anderes. Doch als ich älter wurde und ein wenig las, begann ich, Fragen zu stellen. Ich wollte wissen, wieso die Priester einen eifersüchtigen Mann für tadelnswert hielten, die gleiche Eigenschaft bei ihrem Gott aber als heilig betrachteten. Warum hatte ihr Gott zehntausend Jahre lang zugeschaut, wie die Menschen Götzen anbeteten, außer bei diesem kleinen Stamm in Palästina? Und warum beten sie seinen Sohn an, wenn es doch der Wille ihres Gottes ist, dass kein anderer neben ihm geduldet wird?« Er lachte, als er sich daran erinnerte. »Das sind Kinderfragen, ich weiß. Aber weil die Priester nicht darauf antworten konnten – vielleicht auch, weil ich überhaupt zu fragen wagte –, schlugen sie mich und drohten meinen Ungehorsam dem Kaiser zu melden. Also stellte ich das Fragen ein. Aber nicht das Denken. Ich behielt meine Ansichten für mich, sagte ja, wenn sie ein Ja hören wollten, und nein, wenn sie ein Nein hören wollten, wie der Sklave eines grausamen Herrn.«
Er schaute zu den Kiefern hinauf. Der Schmerz der Erinnerung war ihm anzusehen. Ich fragte mich, wem er diese Geschichte schon erzählt haben mochte; dann fiel mir ein, was Marcellus gesagt hatte: dass Julian ihm wie ein Mann vorkomme, der schon zu lange ein Geheimnis für sich behalten hatte und es nun loswerden wollte.
Julian holte tief Luft und fuhr fort.
»Eines Tages, es war lange Zeit später, wurde mir erlaubt, in die Stadt zu gehen – streng bewacht von einem meiner Erzieher. Als er sich erleichtern ging, lief ich ihm davon und schlenderte durch die Kolonnaden und Säulenhallen. Dabei stieß ich auf ein paar Männer, die unter einem Ölbaum saßen und plauderten. Es waren Philosophen. Damals wusste ich noch nicht, was ein Philosoph ist. Aber ihnen zuzuhören war wie ein Regenguss nach langer Dürre. Ich wusste sofort, dass ich gefunden hatte, wonach sich meine Seele sehnte. In den darauffolgenden Jahren erkannte ich immer deutlicher, was die Priester mir hatten vorenthalten wollen. Für sie ist die Philosophie der Feind, weil sie die Menschen frei macht. Es gibt aber keine Freiheit ohne Wissen, nur Sklaverei und den endlosen Kreislauf des Nichtwissens. Und darum bin ich kein Christ mehr.«
Stille breitete sich aus, bis Marcellus schließlich bemerkte: »Aber du besuchst mit dem Bischof von Paris die Kirche der Christen.«
»Glaubt ihr, ich bin mein eigener Herr? All dieses Katzbuckeln, dieses ständige ›Ja, mein Cäsar, nein, mein Cäsar‹ bedeutet gar nichts. Ich gehe, weil ich muss. Jede Kleinigkeit wird dem Kaiser zugetragen. Sogar meine Freunde werden ausgeforscht und verhört.«
Er warf den Heidekrautzweig in das verlöschende Feuer und beobachtete, wie er verkohlte und verbrannte. »Nachdem ich den germanischen Gaukönig bei Straßburg besiegt hatte, sandte Constantius lorbeergeschmückte Briefe in die Provinzen, in denen sein Sieg bekannt gegeben und gepriesen wurde. Er ließ verbreiten, er selbst habe in vorderster Linie gekämpft, habe die Schlachtordnung aufgestellt und die Reihen der Barbaren aufgerieben. Habt ihr das gewusst? Dabei war er vierzig Tagesmärsche weit weg. Und ich, der dabei war, wurde gar nicht erwähnt. Jeder Sieg ist seiner, aber die Niederlagen habe ich zu verantworten. Folglich kann ich nur versagen. Das ist ihr Plan. Darauf warten meine Feinde bei Hof nur … und dann wollen sie mich vernichten.«
In den Tagen darauf drehte der Wind nach Norden und brachte zuerst Regen, dann bittere Kälte. Eines Morgens wachte ich auf, weil jemand Eis hackte. Es war Marcellus, der sich draußen am Wasserzuber waschen wollte.
»Es hat keinen Zweck«, sagte er und streckte den Kopf ins Zelt. »Es ist bis auf den Grund gefroren. Ich gehe zum Fluss.«
Ich stöhnte und zog mir die Decke über den Kopf. Plötzlich war Marcellus zurück und rief: »Steh auf, Drusus! Schnell! Am Kastell geht etwas vor.«
Ich zog mich an und eilte hinaus. Über dem Lager lag eine dicke Reifschicht. Es war noch früh. Der erste Schein der Dämmerung zeigte sich als blutroter Streifen am Horizont. Als wir den Fluss erreichten, lag das Kastell still da. Das Tor war mit allem versperrt, was die Franken hatten finden können. Die Erdarbeiten der Sappeure ruhten. An der Brustwehr war nirgends ein Gesicht zu sehen.
»Horch!« Marcellus nahm meinen Arm und zog mich den Hang hinunter ans Ufer. Die hohen, überfrorenen Grashalme knisterten und knackten unter jedem Tritt. Ich wollte ihm gerade vorwerfen, mir einen Streich zu spielen, als ich ferne Kratzgeräusche und den gedämpften Klang von Ziegeln hörte, die aufeinandergeschichtet wurden.
»Was tun sie da? Die Mauern erhöhen?«
»Im Gegenteil. Sie brechen die Mauer ab. Komm hierher, dann siehst du, was ich meine.«
Wir gingen bis an die Stelle, wo die Kastellmauer aus dem Fluss ragte, und behielten die Brustwehr sorgfältig im Auge. Auf diese Entfernung konnte ein gut geschleuderter Stein einem Mann den Schädel zertrümmern. Die Geräusche waren nun deutlicher zu hören. Marcellus legte mir die Hand auf die Schulter und lenkte meinen Blick an der Wasserlinie entlang. Und da sah ich es: Die Franken brachen das zugemauerte Seitentor an der Flussseite auf, indem sie den alten Mörtel herauskratzten und die Ziegel einen nach dem anderen entfernten. Doch vor ihnen lag der Fluss und sonst nichts.
Ich blickte Marcellus fragend an. »Aber wohin wollen sie? Sie haben keine Boote.«
»Du schläfst wohl noch, Drusus! Schau! Sie brauchen keine Boote.«
Ich sah genauer hin und riss die Augen auf. Das Wasser war unbewegt und sah aus wie trübes graues Glas: Der Fluss war zugefroren.
»Verstehst du jetzt? Sie wollen hinüberlaufen«, sagte Marcellus, ging in die Hocke und klopfte gegen das Eis.
»So ist das also«, sagte Julian, der kurz darauf zu uns kam. Severus war bei ihm, und schließlich kamen auch Arintheus und Victor vom Lager herbei.
»Wollen wir sie entkommen lassen?«, fragte Victor zornig. »Sie würden zurückkehren, sobald wir abgezogen sind. Ich gehe die Männer wecken. Wir können ihnen den Weg abschneiden, bevor sie den Wald erreichen.«
Julian hatte nachdenklich zugehört. »Nein, warte.« Er bückte sich und hob einen schweren Dachziegel auf, der vor seinen Füßen lag. Er drehte ihn in der Hand, schätzte das Gewicht; dann holte er aus und schleuderte den Ziegel wie einen Diskus über den Fluss.
Er landete mit dumpfem Aufschlag, rutschte über das Eis und blieb in der Strommitte liegen.
Wir blickten stumm zu der Stelle hinüber. Unser Atem dampfte in der Kälte. Severus setzte zum Sprechen an, doch Julian gebot ihm mit einer Geste, still zu sein.
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