Vier Tage …
Ich wandte die Augen ab. Noch war ich nicht bereit, mich an alles zu erinnern. »Und Ihr«, murmelte ich, »wart die ganze Zeit hier und habt … mich gepflegt?«
Sie brach das Brot über der Suppe in kleine Stücke, tauchte einen Löffel hinein und führte ihn an meinen Mund. »Ja, aber das braucht Euch nicht zu sorgen. Ihr seht auch nicht anders aus als jeder andere nackte Mann.«
War ich so zerschunden, dass das Muttermal an meiner Hüfte gar nicht aufgefallen war? Oder wollte sie nur taktvoll sein? Ein prüfender Blick auf ihr Gesicht brachte keinen Aufschluss, und ich war zu verlegen, um nachzufragen.
»Die Suppe ist köstlich«, lobte ich.
»Wechselt nicht das Thema.« Sie kniff die Augen zusammen. »Welcher Teufel hat Euch da nur geritten, dass Ihr in dem Turmzimmer zurückgeblieben seid, obwohl Ihr doch Ihrer Hoheit und Barnaby hättet folgen müssen? Ihr sollt ruhig wissen, dass wir unser Leben aufs Spiel gesetzt haben, als wir bei der Pforte auf Euch warteten. Ihre Hoheit weigerte sich, sich auch nur einen Schritt zu entfernen. Unablässig sagte sie, Ihr müsstet jeden Moment kommen und würdet die Frau kennen, die Seine Majestät versorgte; bestimmt hättet Ihr sie nur befragen wollen. Erst als wir Schüsse hörten und die Soldaten des Herzogs aus allen Toren rennen sahen, war sie zur Flucht bereit. Aber glücklich war sie nicht darüber. Sie sagte, es sei erbärmlich und feige von uns, Euch im Stich zu lassen.«
»Aber sie ist losgeritten? Ist sie jetzt auf ihrem Landsitz und in Sicherheit?«
Kate tauchte den Löffel wieder in die Suppe. »Sicherheit ist nur ein Wort. Ja, es ist die Nachricht verbreitet worden, sie hätte sich nach Hatfield begeben und läge mit Fieber im Bett. Sie weiß genau, dass gerade in Zeiten wie dieser Krankheiten ein hervorragendes Abschreckungsmittel sein können. Von Nutzen können natürlich auch die Keller zahlreicher Häuser in der Nähe von Hatfield sein, wo man die Prinzessin mit Freude aufnehmen würde, sollten sich die Männer des Herzogs auf der Straße blicken lassen.«
»Und Ihr?«, fragte ich. »Warum seid Ihr nicht bei ihr?«
»Ich bin selbstverständlich mit Peregrine zurückgeblieben. Er hat darauf bestanden, Euch zu suchen.«
»Es war Peregrine, der mich gefunden hat?«
»Ja. Am Flussufer.« Sie zögerte. Ein leichtes Beben schlich sich in ihre Stimme. »Er hat gesagt, dass wir nicht aufhören dürfen zu suchen, weil irgendwann alles angeschwemmt wird. Und er hatte recht. Ihr seid kurz vor der Flussbiegung von der Flut an Land gespült worden. Ihr wart nass bis auf die Knochen, verwundet und hattet Fieberfantasien. Aber Ihr wart am Leben.«
»Und Ihr habt mich gesund gepflegt.« Ich hörte aus meiner Stimme widerstrebende Dankbarkeit heraus. Am Hof war es zu meiner zweiten Natur geworden, an allem zu zweifeln, selbst an meinem Glück. »Warum? Ihr habt mich belogen, als Ihr sagtet, Ihr würdet nicht für Cecil arbeiten. Warum sorgt Ihr Euch darum, ob ich lebe oder nicht, wenn Ihr tut, was Euer Herr befiehlt?«
Sie legte den Löffel beiseite und tupfte mir Mund und Kinn mit der Serviette ab. Als sie schließlich antwortete, klang ihre Stimme mühsam beherrscht.
»Ich entschuldige mich dafür, dass ich Euch nicht die ganze Wahrheit gesagt habe. Es war nicht meine Absicht, Euch in Gefahr zu bringen. Meine Treue hat immer Ihrer Hoheit gegolten, auch wenn sie manchmal dickköpfig sein kann und oft vor sich selbst geschützt werden muss, ob sie das nun zugibt oder nicht. Als Walsingham mir sagte, dass Master Cecil es für das Klügste hält, sie von Greenwich fortzubringen, habe ich ihm meine Hilfe versprochen. Euch habe ich nur deshalb nicht aufgeklärt, weil er meinte, Ihr hättet Eure eigenen Befehle. Er sagte, Ihr wärt angeworben und bezahlt worden.«
Sie unterbrach sich. »Ich habe Euch nicht erwartet. Aber jetzt bin ich froh, dass es so gekommen ist. Ich … ich bin froh, dass Ihr hier seid.«
Ich beobachtete ihr Gesicht und verstand. Aber in dem Maße, in dem mir die Ereignisse nach und nach ins Bewusstsein sickerten, nahmen Schmerz und Zorn in mir zu. Ich wollte keine Komplikationen, wollte Verwundbarkeit und Probleme vermeiden. Gefühle für Kate würden mir all das und mehr bescheren.
»Walsingham hat mir Anweisungen erteilt, das ja«, erwiderte ich. »Und ich bin bezahlt worden. Aber mir war auch klar, dass das Treffen Ihrer Hoheit mit Lord Robert sie in noch größere Gefahr bringen würde. Mich wundert, dass niemand meine Befürchtungen geteilt hat.«
»Was hätten wir denn Eurer Meinung nach tun sollen?« Falls Kate meine absichtliche Grobheit durchschaut hatte, ließ sie sich das nicht anmerken. »Sie wollte Robert unbedingt über ihren Bruder ausfragen und ließ keinen Widerspruch gelten. Keine von uns konnte wissen, dass der Herzog vorhatte, selbst um ihre Hand anzuhalten oder Jane Grey auf den Thron zu setzen, wenn sie ihn zurückwies.«
Das klang plausibel. Ich sollte meine Verdächtigungen begraben, zumindest diejenigen, die Kate betrafen. Sie war nicht an einem Komplott gegen Elizabeth beteiligt gewesen.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, lächelte sie mich sanft an. So, wie andere sich auf die Laute verstehen, wusste sie auf meinen zarteren Saiten zu spielen. In einem ungeschickten Versuch, meine Verlegenheit zu verbergen, murmelte ich das Erstbeste, was mir in den Sinn kam. »Es ist nicht anständig, einen Mann in Versuchung zu führen, wenn er keine Kleider trägt.«
Sie lachte. »Bisher habt Ihr Euch doch ganz gut geschlagen.«
Plötzlich wäre ich am liebsten in Tränen ausgebrochen. Irgendwie erinnerte sie mich an Mistress Alice, an das rotwangige, aufrichtige Mädchen, das sie in ihrer Jugend gewesen sein musste. Und während mir das durch den Kopf ging, sah ich wieder den triumphierenden Ausdruck in Mistress Alice’ Augen, als sie sich vor dem Bett des Königs zu mir umgewandt hatte. Sie hatte mir etwas sagen wollen, und jetzt würde ich nie erfahren, was es war.
Ich stellte mich Kates Blick. »Ich dachte, ich würde sterben …« Ich schwieg. Ohne Vorwarnung stieg wieder die Erinnerung an den Kampf gegen das Wasser in mir hoch und stürzte mich in Finsternis. »Wo sind wir?«, fragte ich in gepresstem Flüsterton.
»Auf einem Gutshof in der Nähe von Greenwich. Warum?«
»Wessen Gutshof? Wer ist noch alles bei uns?«
Kate runzelte die Stirn. »Es ist Eigentum Ihrer Hoheit. Das Haus ist an einen Freund verpachtet. Außer Peregrine, Euch und mir ist nur noch Walsingham hier, und der kommt und geht. Er war heute schon einmal da und hat sich erkundigt, wie es Euch … Brendan, was ist? Was habt Ihr?«
Erst als ich ihre erschrockene Miene sah, merkte ich, dass ich zurückgeprallt war. »Das ist der Mann, den ich auf der Mauer gesehen habe. Walsingham. Er hatte einen Dolch. Er ist der Grund, warum ich gesprungen bin. Jetzt erinnere ich mich wieder. Cecil hat dafür gesorgt, dass Ihre Hoheit entkommen konnte, aber er wollte meinen Tod. Er hat Walsingham ausgesandt, damit er mich umbringt.«
»Nein«, widersprach Kate leise. »Da täuscht Ihr Euch. Walsingham war dort, um Euch zu helfen. Wir hätten überhaupt nicht gewusst, wo wir suchen sollen, hätte er uns nicht berichtet, dass er Euch in den Fluss hat springen sehen. Er hat sogar Euer Schwert geborgen, das in den Hof gefallen war.«
»Vielleicht blieb ihm nichts anderes übrig. Das Schwert war der Beweis, dass ich bei Edward war. Ich hätte den Sprung aus dem Fenster ja überleben können – was auch geschehen ist.«
»Trotzdem wärt Ihr ohne ihn nie gefunden worden, nicht bei dieser Strömung. Ihr hattet eine verwundete Schulter. Um Eure Beine hatten sich Seile und Algen gewickelt. Unter normalen Umständen wärt Ihr ertrunken.« Sie zögerte. »Cecil hat Walsingham Euer Wohlergehen ans Herz gelegt. Er hat Euch die ganze Zeit im Auge behalten. Das ist der Grund, warum er auf der Mauer war. Und als wir nicht rechtzeitig bei der Pforte hinter dem Palastpark erschienen, hat er unsere Spur verfolgt.«
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