Sidney blickte auf Edward hinab. »Er begann, von innen zu verfaulen. Der Schmerz wurde zu einer nicht mehr endenden Folter. Northumberland bedrängte ihn Tag und Nacht – ohne Unterlass, ohne Gnade. Schließlich unterschrieb er aus Verzweiflung, denn er konnte das alles einfach nicht mehr ertragen. Außerdem hatte sie ihm Erlösung von diesem endlosen Höllenfeuer versprochen, in dem er verbrannte.«
»Er … er wurde gezwungen, etwas … zu unterschreiben?«, ächzte Elizabeth. Ich sah, wie die Adern an ihren Schläfen hervortraten. »Was war das? Was musste er unterschreiben?«
Sidney schaute weg. »Ein Dokument, mit dem er Lady Jane Grey zu seiner Erbin ernannte. Der Herzog hat ihn gezwungen, Euch und Lady Mary den Anspruch auf den Thron abzuerkennen.«
Elizabeth verriet keine Regung. Ich konnte sehen, wie ihr Gesicht sich verfärbte. Unvermittelt wirbelte sie wutentbrannt herum und machte Anstalten, zur Tür zu stapfen.
»Eure Hoheit«, mahnte ich.
Sie zögerte. »Nein! Sagt es nicht.«
Ich stellte mich vor sie. »Hört nur.«
Von draußen war ein Schlurfen zu hören, das sich näherte, bis es die Tür erreichte.
»Das ist die Kräuterkundige«, sagte Sidney in überraschtem Ton. Und während Barnaby an der Wand neben der Tür Stellung bezog, zerrte ich Elizabeth in den Alkoven hinter den Vorhang. Dort schirmte ich sie mit meinem Körper ab. Den Dolch hatte ich auch schon gezückt, doch er kam mir fast albern vor, wie ein Kinderspielzeug. Ich verstärkte meinen Griff und verfolgte durch eine Lücke, wie die Tür geöffnet wurde.
Eine verkrüppelte kleine Frau humpelte herein. Ihre Knöchel waren nach innen verkrümmt und wiesen grässliche Narben auf.
»Ich habe doch gesagt, es ist die Kräuterkundige«, wiederholte Sidney. Erleichtert ließ sich Barnaby gegen die Wand sinken.
Ich schaute genauer hin. Und mit einem Mal geriet meine ganze Welt aus den Fugen.
Langsam trat ich aus meinem Versteck hervor. Ich wusste es, ohne dass es eines Wortes bedurfte. Es war, als wäre mir ein Nagel ins Herz gerammt worden. Alles Blut in meinen Adern schien zu schwinden. Ich sah kein Zeichen des Erkennens in dem faltigen Gesicht, das von einer altmodischen Haube umrahmt wurde – ein Gesicht, von unsäglichem Leid fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Wie gelähmt starrte ich sie an, doch mitten in meine Zweifel hinein überwältigte mich der aus Kindheitstagen vertraute Duft von Rosmarin. Peregrines Worte fielen mir wieder ein.
Er hat diese alte Amme als Pflegerin … Sie ist einmal gekommen … um einen von Edwards Spaniels zu holen.
Einen schier endlosen Moment lang starrte ich sie an. Ihre Augen waren stumpf, schicksalsergeben. Zitternd hob ich eine Hand an ihre Wange und strich ihr mit den Fingern über die ausgetrocknete Haut. Die Berührung erschütterte mich zutiefst. Fast glaubte ich, ein Trugbild vor mir zu haben, das gleich zu Staub zerfallen würde. Das Herz hämmerte mir in den Ohren. Nie hätte ich für möglich gehalten, was ich hier erlebte.
Nicht nach all den kummervollen Jahren.
Hinter mir flüsterte Elizabeth: »Ihr kennt sie?«
Und ich hörte mich von fern antworten: »Ja. Das ist Mistress Alice. Sie war in meiner Kindheit wie eine Mutter für mich. Später wurde mir gesagt, sie sei tot.«
Stille trat ein. Barnaby schloss die Tür und stellte sich davor auf.
Ich konnte die Augen nicht von Alice wenden, konnte diese zerbrechliche alte Gestalt vor mir einfach nicht mit der geistreichen Frau in Verbindung bringen, die ich in meinem Gedächtnis verwahrt hatte. Sie war immer rege und flink gewesen, in Worten wie in ihren Bewegungen; ihre Augen waren scharf, wach und leuchtend gewesen, ganz anders als diese eingesunkenen, hohlen Halbkugeln, die ich nun vor mir sah.
Sie war wie jedes Jahr zu einer Reise nach Stratford aufgebrochen. Nur für ein paar Tage, die im Handumdrehen vorbei sind , hatte sie gesagt . Für Sorgen ist kein Platz, mein Spatz. Im Nu bin ich wieder zurück. Doch sie kam nicht zurück. Wegelagerer hatten sie überfallen. So erklärte es mir zumindest Master Shelton. Ich weinte nicht, bat nie darum, ihre Leiche oder ihr Grab zu sehen. Der Schmerz saß zu tief. All die Äußerlichkeiten bedeuteten nichts. Sie war nicht mehr da – allein das zählte. Sie war nicht mehr da und würde nie wieder zu mir zurückkehren. So hatte man es mir erklärt. Und das glaubte ich. Ich war zwölf Jahre alt und des einzigen Menschen auf der Welt beraubt worden, der mich je geliebt hatte. Ihr Verlust wurde zu einer niemals heilenden Wunde, die ich tief in meinem Innersten verbarg.
Plötzlich stieg die alte Frage mit der Macht eines Vulkanausbruchs in mir empor:
Warum? Warum hast du mich verlassen?
Doch ein einziger Blick auf ihre Gestalt gab mir die Antwort.
Die Narben an ihren Knöcheln – es waren dieselben wie bei Maultieren, die von ihren gefühllosen Herren dazu gezwungen werden, ein Leben lang mit aneinandergeketteten Beinen im Kreis zu humpeln, damit eine Tretmühle und die damit verbundenen Mühlräder sich unablässig bewegen. Meine Finger fuhren sachte über ihr Kinn, wie um eine verängstigte Stute zu beruhigen. Und wie eine Stute begriff sie. Sie öffnete die Lippen. Ihr Mund gähnte schwarz. Geschändet.
Sie hatten ihr die Zunge herausgeschnitten.
Ein Schrei stieg mir in die Kehle. Ich unterdrückte ihn, als ich Elizabeth stöhnen hörte: »Ist das die Frau, die meinen Bruder vergiftet hat?«
Vom Bett her hörte ich Sidney antworten: »Ja. Lady Dudley hat sie hierhergebracht … Sie hat ihr befohlen, die Behandlungen durchzuführen. Aber sie … sie …«
»Was?«, blaffte Elizabeth. »Raus mit der Sprache!«
»Mistress Alice ist eine hervorragende Kräuterkundige«, erklärte ich mit erstickter Stimme. »Sie hat mich in meiner Kindheit von vielen Krankheiten geheilt. Etwas wie das hier hätte sie nie von sich aus getan.«
Elizabeth deutete auf ihren Bruder. »Und das könnt Ihr nach allem, was sie angerichtet hat, noch sagen?«
Mistress Alice’ verstümmelte Hand zupfte an meinem Wams. Ich sah ihr in die Augen, und mit einem Schlag schmolz der Klumpen in meiner Brust. Barnaby fing meinen warnenden Blick auf, dann wandte ich mich auch schon zu Elizabeth um. »So etwas würde sie einem Lebewesen, geschweige denn einem Menschen, nie und nimmer antun – es sei denn, man zwingt sie dazu! Man hat sie verletzt, gefoltert. Der Herzog hat das befohlen.«
»Warum?« Elizabeth brach die Stimme. »Lieber Gott im Himmel, warum tun sie ihm das an?«
»Um ihn am Leben zu halten. Um Zeit zu gewinnen«, lautete meine grimmige Antwort.
Elizabeth starrte mich an. »Ich kann ihn nicht so zurücklassen. Wir müssen ihn aus diesem Bett wegschaffen.«
»Das können wir nicht«, widersprach ich, wofür ich einen verächtlichen Blick erntete. »Wir müssen weg von hier«, fügte ich entschlossen hinzu. »Sofort.«
Elizabeth warf Barnaby einen fragenden Blick zu. »Ich höre nichts.«
»Ich auch nicht«, antwortete ich. »Aber Mistress Alice sehr wohl! Schaut sie Euch nur an!«
Elizabeth gehorchte. Mistress Alice war zur Geheimtür geschlurft und gab uns aufgeregt Zeichen. Ihre Hände waren grausam verkrümmt worden, und die Finger und Gelenke waren kaum noch als menschlich zu erkennen. In den Jahren der Gefangenschaft war ihr alle Kraft, alles Leben geraubt worden. Bei ihrem Verschwinden war sie noch keine fünfzig Jahre alt gewesen.
Ich musste meine Wut mit Gewalt unterdrücken. Schweigend kehrte ich zu Elizabeth zurück. Sie blickte mir herausfordernd in die Augen, um sich dann abrupt zur Tür umzuwenden.
Barnaby trat an ihre Seite. Sidney stürzte zu einem Kasten und riss den Deckel auf. Dort ruhte in einer Lederscheide ein Schwert mit juwelenbesetztem Griff. Er packte es und warf es mir zu. »Edward hat dafür keine Verwendung mehr. Es ist aus Toledo-Stahl, ein Geschenk des kaiserlichen Botschafters. Ich werde versuchen, die Kerle aufzuhalten. Seht zu, dass Ihr entkommt.«
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