In einer theatralischen Geste winkte er mir zu. »Lauf nicht weg.« Damit trat er in den Gang und schlug die Tür hinter sich zu. Gleich darauf wurde der Riegel vorgeschoben. Die Zelle lag in pechschwarzer Dunkelheit.
In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Angst gehabt.
Ruhig atmend schloss ich die Augen und gestattete ihnen, sich an die Finsternis zu gewöhnen. Allmählich hellte sich das Schwarz rings um mich tatsächlich auf, löste sich von den Mauern, und vor mir erstanden Schatten. Aufgrund der Kälte schloss ich, dass ich mich unter der Erde befand. Außerdem konnte ich das Murmeln von Wasser in der Nähe ausmachen. Ein Fluss?
Auf allen vieren kroch ich in der Zelle herum. Was ich hier vorfand, gefiel mir ganz und gar nicht. Trotz der Algen auf dem Boden und an den Wänden und der übrigen schrecklichen Bedingungen gab es weder Kotspuren noch sonstige Hinweise auf Nager, obwohl Greenwich wie jeder andere Ort, wo es Nahrung zu finden gab, sicherlich von Ratten heimgesucht wurde. Am Fuß der Mauer, in der sich die Tür befand, entdeckte ich ein breites Eisengitter. Ich kauerte mich darüber und starrte hinunter. Aus dem schwarzen Loch stiegen mir ein pestilenzartiger Gestank und das Gurgeln von Wasser entgegen. Ferner musste ich erkennen, dass sich zwar verhärteter Lehm von den Gitterstangen abkratzen ließ, diese aber äußerst massiv waren.
Diese Zelle musste unter der Ruine des alten Palastes aus vergangenen Jahrhunderten liegen. Vielleicht hatte sie in früheren Zeiten als Verlies gedient. Andererseits hatten wir uns doch ein gutes Stück vom See entfernt, und in letzter Zeit war nicht genug Regen gefallen, um die Feuchtigkeit hier unten zu erklären. Der Palast von Greenwich war erst nach den Bürgerkriegen der Feudalzeit erbaut worden. Er besaß keine Schutzwälle oder Burggräben, denn angeblich stellten die nach Unabhängigkeit vom König strebenden Fürsten mit ihren eigenen Vasallen keine Gefahr mehr dar. Doch der schleimige Boden und die modrige Luft wiesen darauf hin, dass diese Zelle erst kürzlich geflutet worden war.
Nichts davon vermochte meine Angst zu zerstreuen.
Nachdem ich die Zelle zweimal umrundet hatte, glaubte ich zu wissen, wie ein gefangener Löwe sich im Käfig fühlen musste. Mit den Füßen stampfend, um den Blutkreislauf zu beleben, kehrte ich zum Gitter zurück. Soweit ich das nach mehreren Versuchen beurteilen konnte, waren Boden und Wände zu massiv, als dass ich etwas herausbrechen oder irgendwo ein Loch hätte graben können. Mein einziger Ausweg hätte darin bestanden, den Mörtel um das Gitter aufzuschlagen und das Gitter herauszunehmen, aber dazu hätte ich eine Hacke benötigt.
Ich saß in der Falle. Und das in einem Moment, da im Prunksaal die Feier zu Jane Greys und Guilford Dudleys Vermählung beginnen sollte und die Stunde von Roberts Rendezvous mit Elizabeth nahte.
Ich ließ mich in die Hocke sinken. Wie lange ich kauerte und wartete, wusste ich nicht; mir war jedes Zeitgefühl abhandengekommen. Irgendwann fiel ich in einen erschöpften Schlaf. Keuchend erwachte ich wieder daraus, weil ich das Gefühl hatte, in einem Meer aus Schleim zu ertrinken. Erst jetzt merkte ich, dass der Gestank, der meine Haut regelrecht durchtränkte, vom Flusswasser herrührte und dass ein gedämpftes Tosen näher kam.
Steif richtete ich mich auf.
»Beim Kreuz, Stokes!«, rief draußen eine erboste Stimme. »Gab es denn nichts anderes, um den Kerl einzusperren?«
»Eure Durchlaucht«, verteidigte sich Stokes, während er den Riegel zurückschob. »Ich versichere Euch, dass ich in der kurzen Zeit nichts Besseres finden konnte, was unseren Bedürfnissen dienen würde.«
Die Tür wurde aufgestoßen. Fackellicht flutete durch die Zelle, blendete mich. Da ich in der Tür nur Schatten sehen konnte, hielt ich mir eine Hand schützend vor die Augen. Ein Ungetüm drängte sich, mit einem Stock fuchtelnd, herein. Dann blieb sie stehen und schaute sich um. »Bring mir die Fackel!«
Stokes quetschte sich hinter dem Ungetüm in die Zelle. Die Fackel, die er in der Hand hielt, beleuchtete eine Art mit Schmuck behängten Bullmastiff, der auf dem übergroßen Kopf eine grotesk winzige, perlenbesetzte Haube trug. Mit einem mehrmaligen Blinzeln zwang ich mein noch brauchbares Auge, sich auf die Erscheinung zu konzentrieren. Das andere war völlig zugeschwollen.
Frances Brandon, Herzogin von Suffolk, erwiderte mein Starren. »Er wirkt irgendwie kleiner. Bist du sicher, dass er das ist? Es könnte genauso gut ein anderer sein. Cecil ist gerissen. Er würde sogar seine Mutter mit einer anderen vertauschen, wenn ihm das einen Nutzen brächte.«
»Eure Durchlaucht«, erklärte Stokes. »Er ist es. Lasst meinen Mann das erledigen. Euch könnte Gefahr drohen.«
»Nein! Ich bin doch keine Mimose. Wenn er es wagt, mich auch nur schief anzublicken, schlage ich ihm den Schädel ein, und dann hat der Spuk ein Ende.« Sie stieß ihren massiven Stock mit dem Silbergriff in meine Richtung. »Du da! Hierher!«
So ruhig ich konnte, trat ich auf sie zu und blieb wohlweislich in gebührendem Abstand vor ihr stehen, um gegen einen plötzlichen Stockhieb vorzubeugen. »Eure Durchlaucht«, begann ich. »Ich fürchte, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich versichere Euch, mir ist schleierhaft, womit ich Anstoß erregt haben könnte.«
Das Stockende schoss auf mich zu und verfehlte mich um Haaresbreite. »So, so, er ist ahnungslos. Hast du das gehört, Stokes? Ihm ist schleierhaft, wie er Anstoß erregt haben könnte.«
»Ich habe es gehört, Eure Durchlaucht«, zwitscherte Stokes. »Ein Schauspieler ist er mit Sicherheit nicht.«
Das Stockende knallte auf den Boden. »Genug!« Sie watschelte dicht an mich heran. Ich unterdrückte den Impuls zurückzuweichen. Nachdem Elizabeth gestern den Palast verlassen hatte, war ich bei meiner Wanderung durch Whitehall auf ein Porträt von Henry VIII. gestoßen, auf dem er, die dicken, beringten Hände in die Hüften gestemmt, mit gespreizten, mächtigen Beinen dastand. Praktisch Nase an Nase mit der Nichte des verstorbenen Königs empfand ich die Ähnlichkeit als beängstigend.
»Wer bist du?«, fragte sie.
Ich hielt ihrem hasserfüllten Blick stand. »Mit Verlaub, Eure Durchlaucht, ich glaube, wir wurden einander bereits vorgestellt. Ich bin Brendan Prescott, Junker von Robert Dudley.«
Im nächsten Moment musste ich mir einen Schrei verbeißen. So präzise wie wütend war ihr Stock zwischen meinen Beinen hochgeschnellt. Ein sengender Schmerz verschlug mir den Atem, und ich krümmte mich. Ein zweiter Hieb sandte mich keuchend zu Boden; in den Lenden breitete sich ein quälendes Pulsieren aus.
Sie baute sich über mir auf. »So, das ist schon besser. In Zukunft kniest du, wenn ich mit dir spreche. Du hast es mit einer Tudor zu tun, Tochter der geliebten Schwester von Henry dem Achten, der verstorbenen Herzogin von Suffolk und verwitweten Königin von Frankreich. Bei allem, was an meinem Blut königlich ist, wirst du mir gefälligst Ehre erweisen!« Sie zog mir den Stock über meine verkrümmten Schultern. »Noch einmal: Wer bist du?«
Stumm starrte ich zu ihrem verzerrten Gesicht hinauf. Ihre Lippen waren wie eine giftige Blüte nach innen gestülpt. »Ergreift ihn!« Stokes’ Gehilfe, ein Koloss von meiner doppelten Größe und der entsprechenden Breite, schlurfte herein. Mühelos hob er mich hoch und klemmte meine Arme fest. Ich hatte nicht die Kraft, mich zu wehren, zumal ich nach dem Stockhieb gegen meine Genitalien vor Schmerzen noch regelrecht gelähmt war.
»Sollen wir mit Tritten gegen seine Rippen anfangen?«, fragte Stokes. »Das löst ihnen normalerweise die Zunge.«
»Nein.« Die Herzogin wandte den Blick nicht von mir. »Er hat zu viel zu verlieren, und Cecil hat ihm zweifellos viel für sein Schweigen gezahlt. Es ist gar nicht nötig, dass er etwas sagt. Schließlich habe ich Augen. Ich kann sehen. Manche Dinge können nicht gefälscht werden.« Sie deutete ruckartig auf mich. »Zieht ihn aus!«
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