»Oh, Charition!« sagte Thorion und seufzte. »Ich verstehe dich nicht. Wie könnte ich zulassen, daß du so etwas tust?«
»Würdest du es denn vorziehen, wenn Festinus mich heiratet?« Thorion antwortete nicht. Er starrte einen Augenblick lang aus dem Fenster und warf einen Blick auf den Palast des Statthalters, dann schlug er mit der Faust ärgerlich gegen den Fensterrahmen. Er fuhr mit der Zunge über seine schmerzenden Knöchel und starrte wütend auf die hell schimmernden Häusergiebel.
Maia hatte mich genau beobachtet. Schließlich streckte sie ihren Arm aus und ergriff meine Hand. »Du hast recht«, sagte sie langsam. »Du weißt schon selbst, was gut für dich ist und wie du glücklich werden kannst. Du hast vollkommen recht, es zu versuchen.«
Ich umarmte sie und war tief gerührt. Thorion wandte den Blick vom Palast ab und starrte uns überrascht an. Nach einem kurzen Zögern zuckte er die Achseln, trat zu uns und umarmte uns alle beide. »Ich nehme an, es ist immer noch besser, als Festinus zu heiraten«, meinte er. »Und ich weiß keinen anderen Ausweg. Aber er soll mir dafür bezahlen! Ich werde dich vermissen, Charition.«
»Es muß ja nicht für immer sein«, sagte ich noch einmal. »In ein paar Jahren, wenn Vater oder Festinus sterben oder wenn Festinus in einer anderen Stadt eine andere heiratet, kann ich zurückkehren. Du kannst allen Leuten erzählen, daß du mich die ganze Zeit in irgendeinem Privathaus auf dem Land versteckt gehalten hast, und kannst dann eine Heirat für mich arrangieren. Meinetwegen auch mit Kyrillos, falls er dann immer noch zu haben ist.«
Bei dieser Aussicht machten sie alle beide schon ein etwas glücklicheres Gesicht.
»Dann wollt ihr mir also helfen?« fragte ich. Das war ein entscheidender Punkt: Auf mich allein gestellt würde ich niemals wegkommen aus der Stadt, außerdem würde ich Empfehlungsschreiben brauchen, um eine Lehrstelle in Alexandria zu erhalten.
»Das stand doch keinen Augenblick lang zur Debatte, oder?« Thorion zog an seiner Unterlippe. »Also, wie um alles auf der Welt kriegen wir dich nach Alexandria?«
4
Der Weg, der sich dazu anbot und der wohl auch der einzige war, führte über das offene Meer. Aber wir hatten bereits fast Ende September, und zwischen Mitte Oktober und Ende März wagten es nur wenige Schiffe, den tückischen Winterstürmen zu trotzen. Thorion ging zum Hafen hinunter und fragte bei den Schiffsherren nach. Er fand einen, der in der darauffolgenden Woche segeln wollte, doch danach lief bis zum Frühjahr keiner mehr aus. Aber ihm gefiel der Anblick des Schiffes nicht sehr.
»Es hat alles Mögliche geladen: Wein und gefärbte Tuche aus Asien und Sklaven aus dem Norden«, erzählte er mir. »Der Schiffsherr sah mir nicht danach aus, als sei er dagegen gefeit, sich während der Reise ein bißchen was dazu zu verdienen. Er könnte einen Eunuchen für mehr als hundert Solidi verkaufen und durchaus versucht sein, das damit verbundene Risiko auf sich zu nehmen.«
Doch schließlich mußten wir es gar nicht darauf ankommen lassen, das Sklavenschiff zu nehmen. Vater handelte einen Ehevertrag mit Festinus aus, in dem der Hochzeitstermin bis zum Mai hinausgeschoben wurde. Festinus wollte eine schnellere Eheschließung, doch Vater hatte gemeint, ich sei noch zu jung, der Antrag wäre so unerwartet gekommen und wir brauchten etwas Zeit, um meine Aussteuer vorzubereiten. Vor Februar ging es unmöglich, und danach sei Fastenzeit, eine ungehörige und ungeeignete Zeit für eine Hochzeit. Ostern lag in jenem Jahr zum Glück spät, und so wurde Anfang Mai festgesetzt. Das ließ uns eine Menge Zeit.
Alle Welt war in jenem Winter sehr freundlich zu mir, so freundlich, daß ich mich beinahe schuldig fühlte, fortzulaufen. Ab und zu machte Festinus uns einen Besuch, jedoch nicht unziemlich oft, und man erwartete nichts weiter von mir, als ihm zuzunicken, züchtig im Hintergrund zu sitzen und ein bescheidenes Gesicht zu machen. Er unternahm keinen weiteren Versuch, allein mit mir zu sprechen, und ich vermied es, überhaupt mit ihm zu reden, und zwar immerhin so erfolgreich, daß der Abscheu, den ich für ihn empfand, etwas nachließ. Vielleicht, dachte ich bisweilen, wenn ich nachts wach lag, vielleicht sollte ich das Wagnis der Ehe doch eingehen. Wenn ich vor der Hochzeit verschwände, würde Festinus Ärger machen. Ich glaubte nicht, daß er Vater ein Jahr nach dem letzten Freispruch erneut anklagen würde, aber er war nach wie vor ein mächtiger Mann. Er konnte Thorions Karriere verhindern und Vater allerlei Ärger bereiten. Darüber hinaus hatte Vater so viel Angst vor dem Statthalter, daß er Maia und die übrigen Sklaven vielleicht schlagen oder foltern würde, um herauszubekommen, wo ich war. Auf der anderen Seite beabsichtigte Vater, mir Maia und ein paar andere Sklaven als Teil meiner Mitgift mitzugeben, und in Festinus’ Haus würde das Leben für sie keineswegs leichter sein als für mich. Im großen und ganzen, dachte ich, würden sie mit Vater besser dran sein. Er war ein freundlicher Mann und haßte es, jemandem etwas zuleide zu tun. Er fürchtete sich vor dem, was er jetzt tat, und machte mir viele peinliche Geschenke, steckte sie mir mit einer unbeholfenen Munterkeit zu, die seine Nervosität kaum verbergen konnte. Darüber hinaus gab er für die Zeit nach der Eheschließung einen Haufen Geld für Kleidung und Kutschen für mich aus. Thorion drängte Vater im Verlauf des Winters immer wieder, Vereinbarungen für seine eigene Ausbildung zu treffen – er wollte alles geregelt haben, bevor wir Festinus zu unserem Feind machten. Diese Vereinbarungen erwiesen sich als ziemlich kostspielig, und Vater mußte etwas Land verkaufen. Es tat mir sehr leid, daß all diese Vorkehrungen und der damit verbundene Ärger umsonst waren, aber ich äußerte mich mit keinem Wort mehr zu der Hochzeit. Vielleicht hegte ich wirklich manchmal meine Zweifel, aber im Grunde genommen brannte ich bereits darauf, in Alexandria zu sein. Thorion unternahm noch ein paar weitere Versuche, Vater dazu zu überreden, die Hochzeit abzusagen, aber Vater wies darauf hin, dazu sei es inzwischen zu spät, und überhaupt, Festinus sei wirklich »sehr viel ruhiger geworden« und werde seiner eigenen Frau schon nichts antun.
Die Tatsache, daß sich alle Welt mir gegenüber plötzlich so entgegenkommend zeigte, bedeutete, daß ich die Möglichkeit hatte, ein paar weitere medizinische Texte zu lesen. Ischyras willigte darin ein, Euripides beiseite zu legen und das Gedicht des Nikandros über Arzneimittel zu lesen. Jedesmal, wenn ich meinen Hauslehrer sah, schämte ich mich sehr: Ich war inzwischen fest entschlossen, seinen Namen in meinen Plänen zu verwenden, aber ich wollte den Mann natürlich nicht selbst mit hineinziehen. Ich machte mir Sorgen, daß ihm meine Flucht eines Tages vielleicht Ärger machen könne, aber ich tröstete mich mit der Gewißheit, daß ich, falls es je soweit käme, immer noch sagen könnte, er wisse nichts davon.
In jenem Winter las ich endlich auch Galen. Maia nahm ihre Ersparnisse mit auf den Markt hinunter und kaufte mir eine Kopie seines Werkes über die Anatomie. Es war das schönste Buch, das ich je gesehen hatte: nicht etwa eine Schriftrolle, sondern ein großer, schwerer Kodex aus Pergament, nicht aus Papyrus. Er hatte wunderschöne Illustrationen in roter und schwarzer Tinte und war mit winziger, jedoch deutlich lesbarer Handschrift geschrieben. Am Rande befanden sich erläuternde Kommentare. Er mußte ein Vermögen gekostet haben. Ich sagte Maia, ich würde ihr das Geld zurückzahlen, aber das lehnte sie strikt ab.
Noch ein anderer der Sklaven war sehr nett zu mir: Es war Philoxenos. Er hatte ebenfalls schlechte Erfahrungen mit Festinus gemacht. Jedesmal, wenn er mich sah, setzte er eine betrübte Miene auf, und ich hätte ihm fast gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, ich würde den Statthalter gar nicht heiraten. Er versprach mir das erste Fohlen, das seine Zuchtstute zur Welt bringen würde, und sagte mir, ich solle ihn rufen, wann immer ich seine Hilfe benötigte: eine wirklich erstaunlich hochherzige und mutige, wenn auch unbesonnene Äußerung! Und er verriet mir seine eigenen, sorgfältig notierten Rezepte für verschiedene Pferdekrankheiten, die er unbeholfen zwischen die Zeilen eines pergamentenen Kochbuchs geschrieben hatte, die jedoch samt und sonders vernünftig und wirklich brauchbar waren.
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