Und insgeheim sagte ich mir, Kyrillos werde wohl kaum einem so verrückten Plan zustimmen. Er mochte alles mögliche von mir halten, aber ich wußte, daß er ehrgeizig war. Es war viel wahrscheinlicher, daß er nicht auf Thorions Pläne eingehen würde. Und das wäre das Ende ihrer Freundschaft und würde uns überhaupt nicht weiterhelfen.
Thorion biß sich auf die Lippen und warf den Kopf in den Nacken. »Was sollen wir denn dann tun, Charition? Wir kennen niemanden, bei dem wir dich verstecken können. Wohin du auch immer gehen würdest, Festinus würde dich im Nu finden. Du kannst noch soviel erklären, daß du nicht bereit bist, in die Ehe einzuwilligen, aber du hast in dieser Angelegenheit keinerlei Rechte. Man erwartet von dir, daß du tust, was Vater sagt.«
»Ich habe eine andere Idee«, sagte ich und hielt inne. Ich hatte die ganze Nacht wach gelegen und an diese andere Idee gedacht. Ich war der Ansicht, genug Zeit damit vertrödelt zu haben, so zu tun, als sei ich das Mädchen im Spiegel, und darauf zu warten, daß mein eigenes Leben schon irgendwann beginnen werde. Vielleicht war es ja sogar ein Glück, daß ausgerechnet Festinus den Vorschlag gemacht hatte, mich zu heiraten. Wäre es irgendein anderer gewesen, hätte ich meinem Vater wahrscheinlich demütig gehorcht. Und ob mein Leben, wenn ich erst einmal verheiratet gewesen wäre, wirklich begonnen hätte, so wie ich es geplant hatte? Oder hätte mein Ehemann mir allen Mut genommen und mir verboten, mich als Ärztin zu betätigen, und mich statt dessen in die Rolle der tugendhaften Ehefrau gedrängt? Er hätte keine Gewalt anwenden müssen. Ich war daran gewöhnt, mich zu verstellen – das sah ich jetzt ganz deutlich –, war daran gewöhnt, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und die Leute in dem Glauben zu lassen, ich sei diejenige, die sie in mir sehen wollten. Und wenn ich dauernd damit beschäftigt wäre, mich zu verstellen, hätte ich vielleicht keine Zeit mehr, wirklich ich selbst zu sein. So hätte ich vielleicht mein ganzes Leben lang gewartet, hätte geheiratet, Kinder geboren, wäre alt geworden und hätte niemals mehr mit meiner eigenen Stimme gesprochen oder meine eigenen Gedanken gedacht, und am Schluß wäre ich vielleicht tatsächlich diejenige geworden, deren Rolle ich gespielt hätte. Jetzt mußte ich beweisen, was in mir steckte.
Thorion und Maia sahen sich an, beide mit derselben Mischung aus Verwunderung und Hoffnung. Maias Augen waren rot: Sie hatte sich vergangene Nacht neben mir in den Schlaf geweint, meine Haare gestreichelt und mich ihr kleines Baby genannt.
»Ich möchte nach Alexandria gehen«, sagte ich, »und dort studieren, um Ärztin zu werden.«
»Das kannst du nicht«, sagte Thorion verächtlich, und an die Stelle der Hoffnung trat Ärger. »Frauen können nicht Medizin studieren.«
»Ich werde mich als Mann verkleiden.«
»Du siehst aber nicht aus wie ein Mann. Und was würdest du auf den öffentlichen Toiletten tun? Deine Tunika raffen und dich in eine Ecke hocken? Und du könntest auch nicht in die öffentlichen Bäder gehen oder in den Gymnasien Sport treiben oder… sonst was. Niemand würde dir glauben!«
»Ich werde mich als Eunuch verkleiden. Von Eunuchen erwartet man Bescheidenheit: Ich wette, sie raffen ihre Tunikas und pinkeln in die Ecke und zeigen sich nirgends nackt. Und man sagt immer, daß sie weibisch aussehen, zumindest solange sie jung sind.« Alle Eunuchen, die ich in Ephesus gesehen hatte, waren nicht mehr ganz so jung und sie sahen auch nicht eigentlich weibisch aus. Aber sie machten auch keinen sehr männlichen Eindruck.
»Was würde man wohl zu einem Eunuchen sagen, der in Alexandria Medizin studiert? Er könnte eher ein Amt am kaiserlichen Hof bekleiden und sich dort sein Geld verdienen. Ein im Ruhestand lebender Kammerherr bekommt tausend Solidi im Jahr! Ganz zu schweigen von den Bestechungsgeldern, die er nebenher einnimmt!«
»Vielleicht liegt mir gar nichts daran, Kammerherr des Kaisers zu sein und Bestechungsgelder anzunehmen. Außerdem sind alle Kammerherren Sklaven. Ein freigeborener Eunuch könnte durchaus Medizin studieren wollen, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil alle Welt Kammerherren haßt.«
»Eunuchen sind aber nicht frei geboren. Wer würde so etwas schon freiwillig mit sich geschehen lassen?« Thorion hielt seine Hände schützend über seine Genitalien. »Außerdem ist es ungesetzlich. Eunuchen sind allesamt Perser oder Abasgi aus Kolchis, in das Kaiserreich importierte Sklaven, bestimmt dazu, hier Kammerherren oder Privatsekretäre zu werden.«
»Ach, hör doch auf damit!« sagte ich. »Du weißt doch ganz genau, daß es freigeborene Eunuchen gibt. Zum Beispiel diejenigen, die als normale Männer von den Persern gefangengenommen und erst dann kastriert worden sind. Gut, sagen wir also, ich bin ein Eunuch irgendwo aus dem Osten… aus Amida. Die Perser haben die Stadt erobert, erinnerst du dich? Ischyras hat uns viel darüber erzählt, es war seine Heimatstadt. Ich bin also aus einer angesehenen Familie in Amida, ich wurde von den Persern gefangengenommen und kastriert, als ich noch klein war. Und dann von dir und Ischyras freigekauft. Jetzt möchte ich einen nützlichen Beruf erlernen. Und weil ich keine Neigungen zeige, einen Verwaltungsberuf zu ergreifen, schickt ihr mich, du und Ischyras, nach Alexandria, um Medizin zu studieren. Das klingt doch durchaus glaubwürdig, oder?« Maia begann erneut zu weinen. Ich trat zu ihr und umarmte sie.
»Bitte nicht«, redete ich ihr gut zu.
»Aber ich wollte doch so gerne, daß du verheiratet bist!« wimmerte sie. »Verheiratet mit einem netten, jungen und vornehm geborenen Herrn, der dich freundlich behandelt. Ich dachte, ich könnte mit dir kommen und dir helfen, den Haushalt zu führen und deine Kinder großzuziehen. Wenn ich denke, daß du dich in einer so unnatürlichen Weise verstellen, dich als Eunuch verkleiden und in einer fremden Stadt leben mußt! Du könntest dort sterben, du könntest entdeckt und bestraft werden, du könntest vergewaltigt werden!« Sie versuchte, sich die Augen zu trocknen. »Alles nur Denkbare könnte dir zustoßen. Und ich brauche dich doch. Was geschieht denn jetzt mit mir?«
»Nicht doch«, antwortete ich. »Du brauchst nur dich selbst. Es ist nicht gut, von anderen abhängig zu sein; es kann ihnen etwas zustoßen. In Ephesus geht es auch nicht viel anders zu als in Alexandria. Und ich gehe ja nicht für immer fort! Wenn ich ein paar Jahre abwarte, ist Festinus vielleicht nicht mehr da, und ich kann zurückkommen.«
Thorion schüttelte den Kopf. »Maia hat recht. Das Leben, das du planst, ist unnatürlich. Dauernd so zu tun, als seist du ein Mann, unter einem fremden Namen in einer fremden Stadt zu leben und fast ohne Geld: das könntest du gar nicht durchhalten.«
»Thorion, Maia«, sagte ich, »bitte! Es ist genau das, was ich möchte. Das wißt ihr genau. Ich möchte lieber Ärztin sein als sonst irgend etwas. Ihr wißt, daß ich es mir schon seit Jahren wünsche.«
»Ich weiß nicht, warum du es dir wünschst«, protestierte Thorion. »In anderer Leute Körper herumzustochern, Scheiße und Erbrochenes und Urin zu untersuchen, Eiterbeulen aufzustechen, Leichen zu sezieren – es ist ein ekelhaftes Gewerbe, Arbeiten, die für gewöhnlich Sklaven überlassen werden. Es ist kein Beruf für jemanden von Stand, ganz abgesehen davon, daß du ein Mädchen bist.«
»Die Heilkunst ist die edelste aller Künste«, protestierte ich mit einem Hippokrates-Zitat. Dann versuchte ich energisch, den beiden etwas klarzumachen, was ich noch niemals jemandem klargemacht hatte, nicht einmal mir selbst. »Es gibt nichts, was mehr Leiden verursacht als Krankheit. Sie tötet sogar mehr Menschen und unter größeren Qualen, als Festinus umzubringen vermag. Denk an unsere Mutter, Thorion, oder an deinen Mann und an dein Kind, Maia! Oh, ich weiß, selbst der beste Arzt kann nur wenig tun, aber wenig ist immerhin etwas. In zehn oder fünfzehn oder zwanzig Jahren, wenn ich zurückblikken und sagen kann: ›Dieser Mensch und jener und jener wäre ohne mich gestorben. Dieser wäre für den Rest seines Lebens verkrüppelt; jenes Baby wäre bei der Geburt gestorben‹ – wenn ich das sagen kann, wie könnte ich dann unglücklich sein? Und was die Meinung anbetrifft, die Heilkunst sei eine niedrige Beschäftigung für Sklaven, so sehe ich das überhaupt nicht ein. Zu verstehen, wie unser eigener Körper und die Natur funktionieren, ist die reinste Form der Philosophie. Und Menschen zu heilen hat beinahe etwas Göttliches an sich!«
Читать дальше