Eine junge Frau Mitte zwanzig öffnete ihnen die Tür. »Ich bin Jeanne, die Tochter des Drechslers aus der Rue Beauregard«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. Doch das Gesicht des kleinen Charles blieb regungslos. Als sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, wich er zurück, als würde er von einer glühenden Reisszange bedroht. Jeanne insistierte nicht. Sie war von mittelgrosser Statur und wirkte sehr robust. Man sah ihren runden Gesichtszügen an, dass sie viel Zeit in der Küche verbrachte. Das lange braune Haar hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr Gesicht umrahmten und es noch etwas fülliger aussehen liessen. Sie führte Jean-Baptiste und Charles durch das kleine und enge Anwesen. Die Holzdecke des Wohnzimmers war der Boden des darüberliegenden Schafotts, wo an Markttagen Diebe und Verbrecher am Schandpfahl ausharrten. Hinter dem Haus war ein Hof. Daran angrenzend ein Pferdestall, eine Pharmacie sowie ein Schuppen, den noch nie jemand betreten habe, wie Jeanne erklärte, mit Ausnahme des verstorbenen Henkers. Jetzt standen sie alle drei im Hof. Ein Hund kam wedelnd auf sie zu. Charles ergriff wieder den Arm seines Vaters und legte ihn quer über seine Brust. Der Hund schnupperte an seiner Hose.
»Kann ich den Schuppen sehen?«, fragte Jean-Baptiste.
»Fragen Sie mich nicht, was der alte Henker dort gelagert hat. Ich weiss es nicht. Aber manchmal hat es ganz schön gestunken.« Mit einem diskreten Blick auf Charles gab Jeanne ihm zu verstehen, dass der Schuppen eher nicht für Kinderaugen geeignet war. Sie legte ihre rechte Hand über Charles’ Augen und wich mit ihm zurück. »Wir warten draussen.«
Jean-Baptiste trat ein. Ein scheusslicher Gestank schlug ihm entgegen. Der süsslich-penetrante Duft der Verwesung. Unter dem offenen Fenster war eine Liege. Darauf ein geköpfter Leichnam. Der Kopf lag zwischen den Knien. Offenbar hatte sein Vorgänger der gleichen Leidenschaft wie Meister Jouenne gefrönt, dachte Jean-Baptiste, und die Leichen der Hingerichteten seziert, bevor er sie am nächsten Tag zum Friedhof fuhr. Er näherte sich der Leiche. Es war stets seltsam, einen Körper ohne Kopf zu sehen. Es war gegen die Natur. Doch nichts konnte ihn mehr erschrecken. Er wusste, dass das Schicksal kein Erbarmen kannte. Er hatte gesehen, wie Menschen starben, in der Neuen Welt und in der Alten Welt, und sie starben nicht anders als Hunde und Vögel. Er hatte unermessliches Leid erfahren, und kaum etwas konnte ihn noch rühren. Nur der kleine Charles konnte ihm ab und zu ein Lächeln abgewinnen. Er liebte seinen Sohn. In dessen Augen lebte Joséphine weiter. Wenn Charles sich an ihn schmiegte, fühlte er sich ihr am nächsten.
»Ich würde mich gerne um euch beide kümmern«, sagte Jeanne, als Jean-Baptiste wieder in den Hof trat. »Ihr Vorgänger war sehr zufrieden mit mir. Er mochte meine Küche. Nach einer Hinrichtung stopfte er wie ein Tier alles in sich hinein. Er war so fett, dass der Leichenbestatter einen grösseren Sarg bestellen musste.«
Jean-Baptiste nickte. »Ja«, sagte er wie zu sich selbst, »Charles wird jemanden brauchen. Er hat sich irgendwie zurückgezogen, in eine andere Welt. Ich finde keinen Zugang zu dieser Welt. Sie ist furchterregend und finster.«
»Ich habe noch Eier, Speck und Gemüse«, sagte Jeanne. Jean-Baptiste blickte sie dankbar an. In ihrer Stimme war Wärme und Zärtlichkeit. Und wenn sie schwieg, wurden ihre Gesichtszüge noch milder, noch weicher. Man wünschte sich, von ihr in die Arme genommen zu werden.
Der neue Haushalt erwies sich als äusserst harmonisch und friedvoll, doch dem kleinen Charles gelang es nicht, dem Gefängnis seiner Seele zu entkommen. Er konnte sprechen wie die Jungen in seinem Alter, aber er blieb stumm. Er hatte einfach nichts mitzuteilen. Nur den Arm seines Vaters brauchte er manchmal. Am liebsten verbrachte er seine Zeit in der Pharmacie hinten im Hof. Hier war noch alles so, wie es Jean-Baptistes Vorgänger hinterlassen hatte. Charles liebte den Geruch der Pharmacie, die Aromen der Heilpflanzen und den Duft von staubigen alten Büchern.
Währenddessen verrichtete Jean-Baptiste seine Arbeit und vollstreckte mit den Gehilfen, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte, Strafurteile. Er erntete viel Lob von der Justizbehörde. Am Abend sass er gern in der Küche und schaute Jeanne beim Kochen zu. Aber er hielt es meist nicht sehr lange aus, denn ihre Fürsorglichkeit liess ihn seine geliebte Joséphine umso sehnsüchtiger vermissen. Dennoch hatte er zunehmend Mühe, sich ihre Gesichtszüge in Erinnerung zu rufen. Das Bild verblasste wie ein vergilbtes Stück Papier. Er hatte begonnen zu vergessen. Das schmerzte ihn unendlich. Es war wie ein Verrat an seiner grossen Liebe. Aber die Zeit war stärker. Wie die Wolken am Himmel zogen die Erinnerungen an ihm vorüber, lösten sich auf und kamen nur selten wieder. Nur in seinen Träumen sah er noch ihr Gesicht, hörte er ihre Stimme, und in dieser geheimen Welt küsste er sie. Und sie liebten sich erneut. Doch Paris verdrängte die Normandie. In Gedanken war er immer öfter bei seinen Leichen, die in seiner Vorstellung das Ausmass gigantischer Maschinen einnahmen, die man Stück für Stück entschlüsseln und begreifen konnte. Mit Jeanne sprach er nie über die Leichen. Sie wusste nicht, dass er sie sezierte.
Als sie ihn eines Tages fragte, ob er noch mehr Kohlsuppe wolle, antwortete er, er würde sie heiraten, wenn sie wolle. Er hielt eine Heirat für eine praktische Idee. Dann würde Jeanne den Haushalt nicht mehr verlassen. »Nur wenn Sie wollen, natürlich«, ergänzte er.
»Aber Monsieur Sanson«, erwiderte Jeanne mit gespielter Empörung und strahlte übers ganze Gesicht, »Sie haben mich noch nie geküsst, und Sie wollen mich heiraten?«
Er blickte von seinem Teller auf und schaute an ihr vorbei. »Muss ich Sie küssen, um Sie zu heiraten?«
»Ja«, sagte sie mit grosser Entschlossenheit und schmunzelte.
Er erhob sich vom Tisch und ging langsam auf sie zu. Er nahm sie in den Arm und hielt sie fest.
Jeanne drückte ihn so fest sie konnte an sich und schloss die Augen. »Sie müssen mich jetzt küssen, Monsieur Sanson«, sagte sie leise. Als er nicht reagierte, löste sie sich von ihm und schaute ihn misstrauisch an. »Sie weinen?«, fragte sie leise.
»Nein«, flüsterte er mit monotoner Stimme, »ich weine nicht. Der menschliche Körper besteht nicht nur aus Haut und Knochen, sondern auch aus Wasser. Und manchmal verliert er Wasser. Es ist nichts als Wasser, Jeanne. Es spült das Alte hinaus. Jetzt kann etwas Neues beginnen.«
»Lieben Sie mich denn, Monsieur?«, fragte sie.
»Ich werde für Sie sorgen, Jeanne.«
Das war für die junge Frau mehr wert als ein Liebesbekenntnis. Jede Hausangestellte in Paris wünschte sich einen Ehemann, der ihr finanzielle Sicherheit gab. Das war viel wichtiger als die Liebe. Liebe war nicht ausgeschlossen, aber sie war keine Voraussetzung für eine lebenslange gute Ehe. Der Altersunterschied spielte keine Rolle. Ältere Männer waren ruhiger und zuverlässiger und hechelten nicht mehr jedem Frauenzimmer nach. Und im Bett waren sie weniger grob.
Jeanne heiratete Jean-Baptiste nach Rücksprache mit ihrer Mutter in der Kirche Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle. Diese war sehr glücklich darüber. Endlich war ihre Tochter zur Ruhe gekommen, und sie musste sich nicht mehr Sorgen machen, wer eines Tages für sie aufkommen würde.
Charles war über diese Heirat gar nicht glücklich. Er gönnte zwar seinem leidgeprüften Vater die neue Frau an seiner Seite, aber ihm schien, als verlöre er dadurch den letzten Halt in seinem Leben. Er wollte seinen Vater mit niemandem teilen, auch nicht mit Jeanne, die er zu lieben gelernt hatte, als sie noch Magd gewesen war. Seine Beziehung zu ihr verschlechterte sich zusehends. Sie versuchte eine gute Stiefmutter zu sein, aber Charles lehnte sie ab. Bisher hatten er und sein Vater eine Magd gehabt. Jetzt war die Magd die Nummer zwei im Haus. Wenn sie ihn etwas fragte, gab er keine Antwort mehr. Und wenn sie energisch wurde, sagte er ihr ins Gesicht, sie sei nicht seine Mutter. Dies erzürnte sie so sehr, dass sie dem Jungen erst recht beweisen wollte, dass sie hier das Sagen hatte. Was sie aber noch mehr erzürnte, war die ambivalente Haltung ihres Ehemannes. Sie hätte sich gewünscht, dass Jean-Baptiste den frechen Bengel ab und zu zurechtwies, damit die Hierarchie im Hause Sanson klar war.
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