Der Wind trieb den Rauch von der Stadt weg, und er löste sich im Spätsommerhimmel auf. Es war fast seltsam, dass keine Kanonen mehr feuerten, keine Triböcke mehr Geschosse schleuderten und dass der Kampf tatsächlich zu Ende war. Das Sterben allerdings hörte nicht auf. Immer noch wurden Leichen in die Wasserläufe geworfen, wo die Möwen an ihnen pickten, und es schien so, als ob die Krankheit niemals enden wollte.
Es kam keine französische Unterstützung.
Die französische Armee sammelte sich zwar im Osten, doch sie würde nicht zur Entsetzung von Harfleur kommen. Am nächsten Sonntag, dem Tag von Sankt Vincent, ergab sich die Stadt.
Auf dem Hang hinter dem englischen Lager wurde ein Pavillon errichtet. Unter den Baldachin stellte man einen Thron und behängte ihn mit goldfarbenem Stoff. Englische Banner flatterten zu beiden Seiten des Pavillons, in dem sich der Hochadel in seinen besten Gewändern drängte. Vor dem Pavillon bildeten zwei Reihen Bogenschützen eine Gasse, die über die Reste der Besatzungsanlagen bis zum zertrümmerten Stadttor reichte, das so vielen Angriffen standgehalten hatte. Hinter den Bogenschützen hatten sich die Reste von Henrys Kampftruppen versammelt, um den Ereignissen beizuwohnen.
Der König von England, bekrönt nur mit einem schlichten Goldreif, trug einen Wappenrock mit dem Hoheitszeichen des französischen Königshauses und saß schweigend auf dem Thron. Er beobachtete das Geschehen, vielleicht fragte er sich auch, was er als Nächstes tun sollte. Er war in die Normandie gekommen, um die Unterwerfung dieser Stadt zu erkämpfen, doch der Sieg hatte ihn seine halbe Armee gekostet.
Hook war am Leure-Tor, wo Sir John eine Truppe von zehn Feldkämpfern und vierzig Bogenschützen befehligte. Sir John, angetan mit seiner Rüstung, die man so lange abgerieben hatte, bis sie schimmernd glänzte, saß auf seinem großen Kampfhengst Lucifer. Das Tier war in einen prächtigen Leinenüberwurf gehüllt, auf dem Sir Johns Wappen prangte, und der gleiche Löwe erhob sich zähnefletschend aus Holz geschnitzt und bemalt auf Sir Johns Helmspitze. Die Feldkämpfer trugen ebenfalls Rüstungen, die Bogenschützen dagegen waren mit Lederwesten und fleckigen Kniehosen angetan. Sie hielten einfache Halfterstricke in der Hand, von der Art, die etwa ein Bauer dazu benutzen würde, um eine Kuh zum Markt zu führen. «Behandelt sie mit Respekt», erklärte Sir John seinen Bogenschützen. «Sie haben gut gekämpft. Sie sind wahre Männer!»
«Ich dachte, sie sind allesamt Scheiße fressende Kohlfurzer», sagte Will of the Dale leise - aber nicht leise genug.
Sir John wandte sich auf Lucifer um. «Das sind sie auch!», sagte er. «Aber sie haben trotzdem wie Engländer gekämpft. Also behandelt sie wie Engländer!»
Ein Abschnitt der neuen Mauer war eingerissen worden, und in demselben Moment, in dem Sir John sprach, tauchten aus der Lücke ungefähr drei Dutzend Männer auf. Es war ihnen befohlen worden, barfuß, in einfachen Leinenkitteln und schlichten Hosen vor den König von England zu treten. Nun gingen sie voll banger Ahnungen langsam und vorsichtig auf die wartenden Bogenschützen zu.
«Schlingen!», befahl Sir John.
Hook und die anderen Bogenschützen knüpften Schlingen in die Stricke. Sir John winkte einen Junker herbei, gab ihm seine Zügel und glitt vom Sattel. Er tätschelte Lucifers Hals, und dann ging er den Franzosen entgegen.
Er wandte sich an einen großgewachsenen Mann mit Hakennase und einem kurzen schwarzen Bart. Der Mann war blass, und Hook hielt ihn für krank, aber dennoch zwang er sich dazu, an der Spitze der Franzosen aus der Stadt zu gehen und sich so an Stolz zu bewahren, was ihm geblieben war. Der bärtige Mann hieß seine Gefährten mit einer Geste zu warten, während er allein weiter auf Sir John zuging. Die beiden Männer blieben einen Schritt voneinander entfernt stehen, der Engländer in großartigem Aufzug und mit allen Zeichen seines Standes, das Heft seines Schwertes poliert, seine Rüstung schimmernd, der Franzose dagegen in der schlechtsitzenden Kleidung der gewöhnlichen Leute, die König Henry ihm befohlen hatte. Sir John, der sein Helmvisier hochgeklappt hatte, sagte etwas, das Hook nicht hören konnte. Dann umarmten sich die beiden Männer.
Sir John ließ seinen rechten Arm um die Schultern des Franzosen liegen, während er ihn zu den Bogenschützen führte. «Hier vor euch steht Seigneur de Gaucourt», verkündete er, «der Befehlshaber unserer Feinde während der letzten fünf Wochen. Er hat tapfer gekämpft! Er verdient etwas Besseres als dies, doch unser König befiehlt, und wir müssen gehorchen. Hook, gib mir die Schlinge!»
Hook streckte ihm das Halfter entgegen. Der Franzose warf ihm einen abschätzenden Blick zu, und Hook fühlte sich versucht, respektvoll den Kopf zu senken.
«Es tut mir leid», sagte Sir John auf Französisch.
«Es ist notwendig», gab Raoul de Gaucourt rau zurück.
«Ist es das?», fragte Sir John.
«Wir müssen gedemütigt werden, damit das übrige Frankreich weiß, was es zu erwarten hat, wenn es Eurem König Widerstand leistet», sagte de Gaucourt. Er lächelte schwach und ließ seinen Blick dann über die englische Armee schweifen, die darauf wartete, seinen erniedrigenden Gang zum Thron des Königs mit ansehen zu können. «Ich bezweifle, dass Euer König jetzt noch die Macht besitzt, Frankreich in Schrecken zu versetzen», fuhr er fort. «Nennt Ihr dies einen Sieg, Sir John?», fragte er und deutete auf die zertrümmerte Stadtmauer, die er so tapfer verteidigt hatte. Sir John antwortete nicht. Stattdessen hob er die Schlinge, um sie de Gaucourt über den Kopf zu ziehen, doch der Franzose nahm sie ihm aus der Hand. «Gestattet», sagte er und legte sich die Schlinge selbst um den Hals.
Den anderen Franzosen legten die Bogenschützen die Schlingen um den Hals. Danach zog sich Sir John wieder auf Lucifers Sattel hinauf. Er nickte de Gaucourt zu und galoppierte die Gasse entlang, die die englischen Soldaten gebildet hatten.
Die Franzosen gingen in vollkommenem Schweigen durch diese Gasse. Manche waren ältere Männer, während andere, zumeist Soldaten, jung und stark waren. Es waren Ritter und Bürger, die Männer, die dem König von England getrotzt hatten, und die Schlingen um ihre Hälse zeigten, dass ihr Leben nun von Henrys Gnade abhing. Sie gingen den Abhang hinauf und knieten sich bescheiden vor den mit goldfarbenem Tuch verhüllten Thron. Henry betrachtete sie lange. Der Wind spielte mit den seidenen Bannern und trieb den letzten Rauch von den Ruinen der Stadt. Die versammelten englischen Edelleute schwiegen. Sie erwarteten, dass der König das Todesurteil über die knienden Männer fällte. «Ich bin der rechtmäßige König über dieses Reich», sagte Henry, «und euer Widerstand war Verrat.»
Ein schmerzlicher Ausdruck flog über de Gaucourts Miene. Aber er ging auf die Anschuldigung nicht ein und hielt stattdessen einen schweren Schlüsselbund hoch. «Die Schlüssel von Harfleur, Sire», sagte er. «Sie sind Euer.»
Der König nahm die Schlüssel nicht. «Eure Auflehnung», sagte er eindringlich, «war gegen das irdische und das göttliche Gesetz.»Einige der älteren Händler schüttelten die Köpfe. Einem von ihnen liefen Tränen über die Wangen. «Aber Gott», fuhr Henry gemessen fort, «ist gnädig.»Er nahm die Schlüssel. «Und auch Wir werden gnädig sein. Ihr habt euer Leben nicht verwirkt.»
Jubel stieg aus der englischen Armee auf, als das Sankt-Georgs-Kreuz über der Stadt aufgezogen wurde. Am nächsten Tag ging Henry von England barfuß zur Kirche Saint-Martin, um Gott für den Sieg zu danken, wenn auch viele bei seinem demütigen Pilgergang fanden, Henrys Triumph sei in Wahrheit eine Niederlage gewesen. Wie viel Zeit hatte er vor Harfleurs Mauern verschwendet, wie hatte die Krankheit seine Armee geschwächt - und nun war das Kriegsjahr beinahe vorüber! Die englische Armee zog in die Stadt. Die Männer brannten ihr Lager nieder und zogen Katapulte und Kanonen durch das zertrümmerte Stadttor. Sir Johns Leute quartierten sich in einer Reihe Herbergen und Lagerhallen bei der Ringmauer des Hafens ein. Hook fand einen Platz auf dem Speicher eines Gasthauses namens Le Paon. « Le paon ist ein Vogel», hatte Melisande erklärt, «mit einem großen Schwanz!»Dazu hatte sie ihre Arme weit ausgebreitet.
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