Will nahm seine Axt, seine Pfeiltasche und seinen Bogen in der Hülle und verschwand in südlicher Richtung zwischen den Bäumen. Melisande sah ihm nach, dann richtete sie ihren Blick auf die gespannte Armbrust, als habe sie solch ein Ding noch nie gesehen. «Pater Christopher hat mit mir geredet», sagte sie ruhig.
«Ach ja?», gab Hook zurück. Er sah an dem Baum empor und dann wieder zu der Kerbe, die er in den Stamm geschlagen hatte. «Dieser Riese wird gleich umfallen», warnte er sie vor. Dann ging er auf die andere Seite des Baumes und hieb die Axt in den Stamm. Er zerrte das Blatt frei. «Und was wollte Pater Christopher von dir?»«Er wollte wissen, ob wir heiraten.»«Wir? Heiraten?»Die Axt fuhr erneut nieder, und ein Holzkeil fiel herab, als Hook das Blatt wieder aus dem Stamm zog. Jetzt passiert es gleich, dachte er. Er spürte den Zug in der Eiche, die geräuschlose Dehnung in ihrem Stamm, die dem Tod des Baumes vorausging. Mit ein paar Schritten entfernte er sich von der Eiche und stellte sich zu Melisande, die in sicherer Entfernung abwartete. Er nahm wahr, dass die Armbrust immer noch gespannt war, und hätte ihr fast erklärt, dass sie die Waffe schwächte, wenn sie die Bogenschenkel unter Spannung hielt, doch dann fiel ihm ein, dass das vielleicht gar nicht so schlecht war. Wenn die Bogenschenkel geschwächt waren, würde sie es leichter haben, die Sehne zu spannen. «Heiraten?», fragte er erneut.
«Das hat er gefragt.»
«Und was hast du geantwortet?»
«Ich wusste es nicht», sagte sie und sah zu Boden. «Vielleicht?»
«Vielleicht», gab Hook wie ein Echo zurück, und in demselben Moment barst der Stamm, und die gewaltige Eiche fiel, langsam zuerst, dann immer schneller, krachend und rauschend zwischen Ästen und Laubwerk hindurch, und landete schließlich dröhnend auf der Erde. Vögel kreischten. Ein paar Augenblicke war der Wald in Aufruhr, dann ebbte der Lärm wieder ab, und es war nichts weiter zu hören als die hallenden Axtschläge entlang des Bergkammes. «Ich meine», sagte Hook langsam, «das wäre vielleicht eine guter Einfall.»
«Findest du?»
Er nickte. «Ja.»
Sie sah ihn eine Weile an, ohne etwas zu sagen, und nahm dann ihre Armbrust auf. «Ich sehe am Schaft hinunter», fragte sie, «und halte die Armbrust ganz fest?»
«Und dann löst du ganz sanft aus», sagte er. «Halte am besten die Luft an, während du abziehst, und richte dabei deinen Blick nicht auf den Bolzen, sieh einfach dorthin, wo der Bolzen hinfliegen soll.»
Sie nickte, legte den Bolzen in die Furche und zielte auf denselben Baum, den sie zuvor verfehlt hatte. Sie stand nun ein paar Schritte näher davor. Hook sah ihr aufmerksam zu, sah die Konzentration in ihrer Miene und wie sie in Erwartung des Rückstoßes zusammenzuckte. Dann hielt sie den Atem an, schloss die Augen, zog am Abzug, und der Bolzen jagte an dem Baum vorbei und verschwand in der Senke dahinter. Melisande starrte verzweifelt in die Richtung, in die er geflogen war.
«Du hast nicht sehr viele Bolzen», sagte Hook, «und die hier sind noch dazu besonders.»
«Besonders?»
«Sie sind kleiner als die meisten anderen», sagte er. «Sie sind speziell für diese Armbrust angefertigt worden.»
«Soll ich nach den Bolzen suchen, die ich verschossen habe?»
Er lächelte. «Ich hacke ein paar von diesen Ästen ab, und du suchst die zwei Bolzen.»
«Ich habe noch neun.»
«Elf wären besser.»
Sie legte die Armbrust auf den Boden, stieg vorsichtig den Abhang hinunter und war bald im sonnenüberglänzten Grün des Unterholzes verschwunden. Hook spannte die Armbrust, kurbelte die Sehne ohne jede Anstrengung zurück und hoffte, die Dauerspannung würde die Bogenschenkel schwächen, damit es Melisande leichter hätte. Dann machte er sich daran, die Seitenarme der gefällten Eiche abzuhacken. Er fragte sich, warum der König eine solche Menge gerader Hölzer in der Länge eines Bogenschaftes haben wollte. Nicht meine Angelegenheit, dachte er sich dann. Er machte sich an den zweiten Ast, dann an den dritten. Der gewaltige Stamm würde noch zersägt werden, doch für den Moment blieb er dort liegen, wo er hingefallen war. Hook hackte ein paar schwächere Äste ab und hörte irgendwo auf dem Bergkamm einen anderen mächtigen Baum tosend niedergehen. Tauben flatterten mit klatschendem Flügelschlag zwischen dem Blattwerk. Hook überlegte, ob er Melisande bei der Suche nach den Bolzen helfen sollte, denn sie war schon viel zu lange weg, doch gerade als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, kam sie voller Aufregung zurückgerannt. Sie deutete auf den westlichen Bergabhang. «Da sind Männer!», sagte sie.
«Natürlich sind da Männer», sagte Hook und hieb, die Axt nur mit einer Hand haltend, einen Ast von der Dicke eines Männerarms ab. «Wir haben uns hier überall verteilt.»
«Bewaffnete Reiter», zischte Melisande, « Chevaliers !»«Das sind sicher welche von uns», sagte Hook. Täglich unternahmen einige Feldkämpfer Erkundungsritte in die Umgebung, um sich nach Verpflegung und der französischen Armee umzusehen, deren Ankunft zur Entsetzung Harfleurs alle erwarteten.
«Es sind Franzosen!», flüsterte Melisande aufgeregt.
Das glaubte Hook nicht, dennoch ließ er die Axt in den gefällten Baum fahren, damit sie stecken blieb, sprang vom Stamm herunter und nahm Melisande am Arm. «Sehen wir nach.»
Da waren wirklich Männer, Reiter in einem mit Farndickicht bewachsenen Geländeeinschnitt, der sich wie eine Rinne mit schlangengleichen Windungen den Wald hinaufzog. Hook zählte ein Dutzend Reiter, die auf einem schmalen Pfad hintereinanderher ritten, doch er spürte, dass dahinter noch weitere Reiter waren. Und Melisande hatte recht: Die Reiter trugen nicht das Sankt-Georgs-Kreuz. Zwar trugen auch sie Wappenröcke, doch Hook kannte keinen davon, und sie trugen Plattenpanzer und Helme. Die Visiere hatten sie hochgeklappt, sodass Hook unter dem Schatten des Stahls die Augen des ersten Reiters blitzen sehen konnte. Dann erhob dieser Mann die Hand, um die Reihe zum Stehen zu bringen, und betrachtete aufmerksam die Anhöhe. Er wollte ausmachen, von wo genau die Axthiebe kamen, und während er sich darauf konzentrierte, tauchten hinter ihm weitere Reiter unter den Bäumen auf.
«Franzosen», flüsterte Melisande.
«Das stimmt», sagte Hook mit gedämpfter Stimme. Die meisten Reiter hatten ihre Schwerter gezogen.
«Was machen wir jetzt?», fragte Melisande leise. «Verstecken wir uns?»
«Nein», sagte Hook, denn er wusste, was er tun musste. Er wusste es, ohne zu überlegen, sein Gefühl sagte es ihm, und weder zweifelte er es an, noch zögerte er einen Moment. Vorsichtig ging er mit Melisande zu dem gefällten Baum zurück, nahm die Armbrust und rannte dann den Bergkamm entlang. «Die Franzosen!», rief er. «Sie kommen! Geht zu den Karren zurück! Schnell!»Wieder und wieder rief er: «Zurück zu den Karren!»Tom Scarlet und Will of the Dale sahen ihm vollkommen verwirrt entgegen. «Will», sagte Hook, «mach Sir Johns Stimme nach. Sag ihnen, dass die Franzosen hier sind und dass alle zu den Karren zurückgehen sollen.»
Will of the Dale starrte Hook einfach bloß an.
«Los, mach Sir Johns Stimme nach!», wiederholte Hook schroff und rüttelte den Zimmermann an der Schulter. «Die verdammten Franzosen rücken an! Jetzt geh! Wo ist Matt?», fragte er, an Tom Scarlet gewandt, der stumm Richtung Süden deutete.
Will of the Dale tat, was Hook ihm gesagt hatte. Er hastete über den Bergkamm zurück und ahmte Sir Johns raue Stimme nach, um die Bogenschützen zurück zu den großen Karren am Weg zu bringen. Peter Goddington, der sich ebenfalls täuschen ließ, suchte nach Sir John, fand aber nur Hook, Melisande und Tom Scarlet. «Was geht hier vor?», fragte Goddington wütend.
«Franzosen, Sergeant», sagte Hook und deutete auf den Westhang des Hügels.
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