Als er im Kindesalter mit dem Bogen schoss, hatte Hook die Sehne bis zu seinem Kinn gezogen und mit einem genauen Blick über die Sehne gezielt, doch das nahm dem Bogen viel von seiner Kraft. Wenn sich eine Ahlspitze durch einen Harnisch bohren sollte, benötigte sie den ganzen Schub, den ihr der Bogen verleihen konnte, und das bedeutete, dass die Sehne bis zum Ohr gezogen werden musste, und dann behinderte der Pfeil die Sicht. Hook hatte Jahre gebraucht, um zu lernen, wie man den Pfeil in sein Ziel dachte . Er konnte nicht erklären, wie es ging. Kein Bogenschütze konnte das. Er wusste nur, dass er das Ziel ansah, wenn er die anderen wurden die Anker eingeholt und die Segel gesetzt. Dieser Wind würde sie geradewegs nach Frankreich tragen. Dieser Wind würde England in den Krieg tragen.
Niemand wusste, wo in Frankreich sie kämpfen würden. Manche der Männer glaubten, die Flotte würde Richtung Süden nach Aquitanien segeln, andere meinten, es würde Calais werden, und die meisten hatten überhaupt keine Vorstellung von ihrem Ziel. Einigen wenigen war es auch vollkommen gleichgültig, denn sie hingen nur würgend über der Reling.
Die Flotte segelte zwei Tage und zwei Nächte lang unter einem Himmel voll kleiner weißer Wolken, die schnell südwärts zogen, und unter Sternen, die so hell funkelten wie Edelsteine. Pater Christopher unterhielt die Leute auf der Heron mit Geschichten, und Hook lauschte gebannt der Erzählung von Jonas und dem Wal. Er suchte die sonnenüberglänzte See nach einem Hinweis auf ein solches Untier ab, doch er entdeckte keinen. Er sah nur die zahllosen Schiffe auf dem rollenden Meer, als wären sie eine Herde auf einer Sommerwiese.
Auch bei der zweiten Morgendämmerung stand Hook so weit vorne im Schiff, wie es der vollbeladene Bug erlaubte, und musterte die See in der Hoffnung, einen männerverschlingenden Fisch zu Gesicht zu bekommen. Schweigend trat Sir John neben ihn. Hook grüßte eilig, indem er zwei Finger an die Stirn legte, und Sir John nickte umgänglich. Melisande schlief in Hooks Umhang gehüllt im Schutz einiger Fässer an Deck. Sir John lächelte, als er sie sah. «Ein gutes Mädchen, Hook», sagte er.
«Ja, Sir John.»
«Und zweifellos werden wir mit ein paar Dutzend weiterer guter französischer Mädchen nach Hause zurückkehren, Hook! Neue Frauen. Siehst du diese Wolken?»Sir John sah direkt in Fahrtrichtung, wo am Horizont eine Wolkenbank lag. «Das ist die Normandie.»
Hook schaute, doch er konnte unter den Wolken nichts anderes ausmachen als die vordersten Schiffe der Flotte. «Sir John?», fragte er zögernd und erntete einen ermutigenden Blick. «Was wisst Ihr über», er hielt inne, «über den Seigneur d'Enfer?»Hook kämpfte mit der französischen Aussprache.
«Lanferelle? Melisandes Vater?», fragte Sir John.
«Sie hat Euch von ihm erzählt?», fragte Hook erstaunt zurück.
«O ja, das hat sie», sagte Sir John mit einem Lächeln, «das hat sie in der Tat. Warum willst du etwas über ihn wissen?»
«Ich bin eben neugierig.»
«Machst du dir Sorgen, weil sie die Tochter eines Adligen ist?», fragte Sir John schlau.
«Ja», gab Hook zu.
Sir John lächelte erneut und deutete dann über den Bug der Heron hinaus. «Siehst du diese kleinen Segel?»Weit vor der englischen Flotte befand sich eine weitere Gruppe von Schiffen, es waren viel weniger, und sie waren allesamt wesentlich kleiner, nichts weiter als ein paar winzige braune Segel. «Französische Fischer», sagte Sir John grimmig. «Sie bringen die Neuigkeiten über uns in ihre Heimathäfen. Lass uns beten, dass diese Bastarde nicht auf die Idee kommen, dass wir landen könnten, denn wenn wir an Land gehen, haben sie wirklich eine gute Gelegenheit, uns zu töten, Hook! Sie wissen, dass wir kommen! Und alles, was sie brauchen, sind zweihundert Bewaffnete, die uns am Strand erwarten.»
Hook beobachtete die winzigen Segel, die sich auf der unendlichen Weite der See nicht zu bewegen schienen. Der Himmel im Westen war immer noch dunkel, doch im Osten begann es hell zu schimmern. Und er fragte sich, woher die Seeleute der englischen Flotte wussten, in welche Richtung sie fahren sollten. Er fragte sich, ob Sankt Crispinian jemals wieder zu ihm sprechen würde.
«Dort», sagte Sir John leise. Offenbar hatte er beschlossen, Hooks Frage nach Seigneur de Lanferelle zu übergehen. Stattdessen deutete er geradeaus.
Und da lag sie. Die Küste der Normandie. Auch wenn sie noch nichts weiter war als ein dämmriger Schatten, ein Streifen tiefer Dunkelheit, wo sich die Wolken und die See trafen.
«Ich habe mit Lord Slayton geredet», sagte Sir John. Hook verharrte schweigend. «Er kann natürlich nicht nach Frankreich kommen, verkrüppelt wie er ist, aber er war in London, um dem König seine besten Wünsche zu überbringen. Er sagt, du seist ein guter Kämpfer.»
Hook schwieg. Die einzigen Kämpfe, die Lord Slayton damit meinen konnte, waren Händel, die im Gasthaus ausgetragen worden waren. Auch sie konnten tödlich enden, doch sie waren mit einem Kampf in der Schlacht nicht zu vergleichen.
«Auch Lord Slayton war ein guter Kämpfer», sagte Sir John, «bevor er am Rücken verletzt wurde. Nur mit der Vorhandabwehr war er etwas langsam, wenn ich mich richtig erinnere. Es ist immer gefährlich, das Schwert über die Schulter zu heben, Hook.»
«Ja, Sir John», sagte Hook artig.
«Und er hat dich geächtet», fuhr Sir John fort, «aber das ist jetzt nicht wichtig. Du gehst nach Frankreich, Hook, und dort bist du kein Geächteter. Welcher Vergehen du auch immer in England bezichtigt worden bist, sie zählen in Frankreich nicht, und sogar das ist nicht wichtig, weil du jetzt mein Mann bist.»
«Ja, Sir John», wiederholte Hook.
«Du bist mein Mann», wiederholte Sir John nachdrücklich, «und Lord Slayton hat sich damit einverstanden erklärt. Aber mit Widerstand musst du dennoch rechnen. Dieser Priester will dich tot sehen, und wie mir Lord Slayton gesagt hat, gibt es noch andere, die dich mit Vergnügen in Streifen schneiden würden.»
Hook dachte an die Brüder Perrill. «Das stimmt», räumte er ein.
«Und Lord Slayton hat mir noch andere Dinge über dich gesagt», fuhr Sir John fort. «Er sagte, du seist ein Mörder, ein Dieb und ein Lügner.»
Hook spürte Ärger in sich aufflammen, doch wie die Gischt auf den Wellen verging er sofort wieder. «Das alles war ich einmal», sagte er.
«Und dass du sehr befähigt seist», sagte Sir John. «Und das, Hook, gilt auch für den Seigneur d'Enfer . Ghillebert, Seigneur de Lanferelle, ist außerordentlich fähig. Er ist ein harter Kerl, aber er ist auch einnehmend, klug und beschlagen. Er spricht Englisch!»Sir John hatte die drei letzten Worte ausgesprochen, als beschriebe er gerade eine äußerst merkwürdige Fertigkeit. «Er wurde in Aquitanien gefangen genommen», erklärte er, «und in Suffolk festgehalten, bis sein Lösegeld bezahlt wurde. Das dauerte drei Jahre. Vor zehn Jahren kam er frei, und ich wage zu sagen, dass eine Menge kleiner Kinder mit seiner langen Nase in Suffolk aufwachsen. Er ist der einzige Mann, den ich niemals im Turnier geschlagen habe.»
«Es wird aber erzählt, dass Ihr niemals verloren habt!», sagte Hook heftig.
«Das habe ich auch nicht, denn er konnte mich ebenfalls nicht schlagen», sagte Sir John grinsend. «Wir haben gekämpft, bis wir nicht mehr konnten. Ich habe dir ja gesagt, er ist gut. Aber er ist trotzdem vor mir zu Boden gegangen.»
«Dann habt Ihr ihn also doch bezwungen.»
«Er ist wohl eher ausgeglitten. Also bin ich einen Schritt zurückgetreten, damit er wieder aufstehen konnte.»
«Warum?»
Sir John lachte. «In einem Turnier, Hook, muss man ritterlich sein. Gutes Benehmen ist in einem Turnier ebenso wichtig wie das Kämpfen. In der Schlacht gilt das allerdings nicht. Falls du also Lanferelle in der Schlacht zu sehen bekommst, dann überlass ihn mir.»
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