Für Honey waren die schrecklichen Monate, die sie bei Rent-a-Dog verbracht hatte, mit einem Schlag vergessen. Dafür war alles wieder da, was sie einmal gelernt hatte.
Sie fühlte, wie ihr der Wind durchs Fell fuhr, ihre Augen strahlten, sie hätte ewig so weitermachen können.
Innerhalb von wenigen Minuten ergossen sich die Schafe wie ein weißer Strom in den Pferch und Selby ging hin und schloss das Gatter.
»Das genügt«, sagte er zu den beiden Hunden. Und Honey blickte zu ihm auf und wedelte mit ihrem buschigen Schwanz. Diese Worte kannte sie aus ihrem alten Leben und wusste, was sie bedeuteten. Die Arbeit war getan und sie war gut getan.
Zehn Minuten später saß Selby in seiner Küche und trank Tee. Honey lag auf dem Kaminvorleger neben Billy, der ihr Platz gemacht hatte, und während Selby die beiden Hunde anschaute, erlaubte er sich, ein wenig zu träumen.
Wenn es nun wirklich ein Wunder war? Wenn dieser Hund auf wundersame Weise zu ihm gekommen war, um ihn und seine Herde zu retten?
Mit einem Hund wie diesem würde er gut noch fünf Jahre so weitermachen können und dieses Rosewood könnte ihm gestohlen bleiben.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken, und als er öffnete, stand da ein kleines Mädchen, das völlig außer Atem war und sehr besorgt aussah.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber haben Sie vielleicht einen Langhaarcollie gesehen? Mit schwarz-weiß-braunem Fell. Sie hat einen Pfiff gehört und ist auf und davon.«
Selby führte sie in die Küche und zeigte auf den Kaminvorleger.
»Hätte mir ja denken können, dass es zu schön ist, um wahr zu sein«, sagte er, als Honey sich erhob und zur Begrüßung mit dem Schwanz wedelte.
»Du weißt, dass sie ein Hütehund ist? Und zwar ein ganz besonders guter. Du hättest sie mal sehen sollen, wie sie die Schafe zusammengetrieben hat.«
»Ja, ich weiß«, erwiderte das Mädchen. »Sie ist nicht weit von hier ausgebildet worden, aber ihr Besitzer musste seinen Hof aufgeben. Eine Familie mit kleinen Kindern hat sie gekauft und dann …«
Pippa brach ab, um ein Haar hätte sie sich verplappert und von Rent-a-Dog erzählt.
Honey rieb liebevoll ihre Schnauze an Pippas Bein, schließlich war sie es gewesen, die sie befreit hatte. Sie erinnerte sich an die anderen Hunde, sie erinnerte sich an die Reise, die sie zusammen unternommen hatten.
Doch dann lief sie zurück zum alten Selby und schaute zu ihm auf. Hier war jedoch ihr wahrer Herr, hier konnte sie das tun, was sie tun wollte, und sie selbst sein. Dann nahm sie verwirrt zwischen Pippa und dem Hirten Platz.
Selby beugte sich zu ihr hinunter und kraulte sie zwischen den Ohren. Er wusste, dass er sie behalten konnte. Er musste nur sagen: »Bleib!«, und sie würde bleiben.
Pippa schwieg. Sie musste an Francine denken. Honey würde sich entscheiden müssen, aber war das auch fair?
In Pippas Klasse war ein Mädchen gewesen, dessen Eltern sich hatten scheiden lassen. Sie war ganz gut damit zurechtgekommen, bis sie sich eines Tages entscheiden sollte, bei welchem Elternteil sie leben wollte. Danach war sie einfach zusammengebrochen.
Wenn es schon für einen Menschen so schwierig war, sich zu entscheiden, wie dann erst für einen Hund?
Schließlich war es der alte Selby, der Honey die Entscheidung abnahm. Er hatte noch nie jemandem den Hund weggenommen und würde das auch nicht tun, aber es fiel ihm schrecklich schwer.
Er hob seinen Stock und rief Honey zu: »Los, verschwinde!«, sagte er so unfreundlich, wie er nur konnte. »Raus mit dir.«
Honey jaulte auf, schaute ihn an und leckte ihm die Hand, aber er hielt immer noch drohend den Stock und langsam, ganz langsam und immer wieder über die Schulter zurückschauend, folgte die Hündin Pippa aus der Tür.
Der alte Selby stand auf seiner Veranda und sah ihnen hinterher. Wunder gab es, das war mal sicher, aber anscheinend nicht für ihn. Seine Augen wurden feucht, ärgerlich wischte er sie mit seinem Ärmel trocken.
»Verdammter Wind«, murmelte er.
Dann ging er zurück ins Haus und griff zum Telefon, um seine Nichte anzurufen.
18. Kapitel
Der Müllgangster
Eigentlich war Kevin Dawks ein netter Mensch. Immer bereit, anderen zu helfen. Er half dem Manager des Supermarktes, der nicht wusste, wohin mit dem verrotteten Gemüse und den alten Plastiktüten, er half dem Besitzer der Kneipe, der seinen kaputten Fernseher loswerden wollte und ein Fahrrad, das sein Sohn zu Schrott gefahren hatte. Und er half dem Automechaniker, der nicht wusste, wohin mit den Kanistern voll Altöl und anderen giftigen Flüssigkeiten.
Kevin half all diesen Leuten, indem er den Müll auf seinen Kipplaster lud und irgendwo verschwinden ließ. Er brachte ihn zu abgelegenen ländlichen Plätzen, kippte ihn zum Beispiel in einen Wald voller Glockenblumen oder in einen Fluss oder auf ein frisch bestelltes Feld. Ihm war egal, wo, Hauptsache, es gab keine Zeugen.
Natürlich verlangte er Geld für diese Dienste. Illegal Müll abzuladen ist verboten und ziemlich gefährlich. Kevin musste ständig auf der Hut vor der Polizei sein. Und da er bei Weitem nicht das verdiente, was seine Arbeit wert war, hatte er auch noch ein paar andere Jobs. Er hortete Diebesgut wie Zigaretten oder Schmuck oder Werkzeug, das erst einmal aus dem Verkehr gezogen werden musste, bevor man es weiterverkaufen konnte. Er besaß einen Schuppen am Rande des Moors, der ihm als Versteck diente.
Nachdem die Kinder den Schäfer verlassen hatten, waren sie stramm marschiert und am frühen Nachmittag erreichten sie einen von Birken gesäumten Weg, der an einem fröhlich plätschernden Flüsschen entlangführte.
»Mein Großvater sagt, dass man aus all den Flüssen und Bächen hier oben trinken kann«, erzählte Henry. »Das Wasser kommt aus den Bergen und ist das sauberste von ganz England. Geh ruhig schon mal vor, ich fülle nur meine Wasserflasche.«
»In Ordnung«, sagte Pippa, »aber bleib nicht zu lange.«
Sie ging mit den anderen Hunden weiter, während Henry und Fleck das steile Ufer hinunterkletterten. Es war wunderschön hier. Dunkelgrüne Farnkrautwedel entrollten sich, zwischen den Birken wuchsen blaue Glockenblumen … diese verwunschen Flusstäler hatten einen eigenen Zauber.
Fleck war vorausgelaufen, doch nun kam er zu Henry zurück und hielt ihm seine Pfote entgegen.
»Was ist denn, Fleck?«
Fleck winselte und Henry sah zwischen seinen Krallen ein Stück rostigen Draht. Er zog es vorsichtig heraus und jetzt bemerkte er auch den Geruch.
Ein Geruch, der zu diesem lieblichen Ort überhaupt nicht passte. Ein Übelkeit erregender Gestank nach Fäulnis und Verfall.
Dann erblickte Henry einen Berg von Müll, der sich den Abhang hinunter in den Fluss ergoss. Eine zerschlissene Matratze, Kanister, aus denen Öl ins Gras lief, und jede Menge vergammelter Lebensmittel. Aus einem umgekippten Sofa staken die Sprungfedern heraus. Und über allem hing dieser unerträgliche Geruch …
Henry wusste nicht, wie er wieder zurück auf den Weg gekommen war. Er stand unter Schock. Wer konnte das getan haben, wer konnte diese Idylle in eine Müllkippe verwandelt haben? Er hielt immer noch die Luft an, während er sich bückte, um seinen Schnürsenkel zuzubinden. In diesem Moment fuhr ein Laster an ihm vorbei, bremste ab und rollte rückwärts auf ihn zu.
Kevin hatte seine Ladung in den Fluss gekippt und in seinem Wagen ein Nickerchen gemacht, wie man es tut, wenn man seine Arbeit ordentlich erledigt hat. Er wollte gerade wieder zu seinem Versteck im Moor fahren, als er am Wegesrand einen Jungen sitzen sah. Der Junge war blond und trug einen blauen Anorak – und irgendwie kam er ihm bekannt vor.
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