Als Kayley dann endlich zu Hause ankam, war sie so erschöpft, dass sie kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Aber die Zwillinge kamen mit ihren Hausaufgaben nicht voran und brauchten Hilfe und Großvater musste zum Lottoladen gefahren werden. Er war durch nichts davon zu überzeugen, dass er niemals so viel gewinnen würde, um die Farm der Familie wieder zurückzukaufen.
Kayleys Mutter, Mrs O’Brian, war noch nicht zu Hause, sie nähte für Mrs Naryan. Einen Moment lang überlegte Kayley, sie dort abzuholen. Die Familie Naryan war immer so freundlich und nett und der Gedanke an ihr wundervolles Haus mit den farbigen Seidenstoffen und exotischen Düften hatte an diesem schrecklichen Abend etwas sehr Verlockendes. Einmal, als es furchtbar geregnet hatte, hatte Mrs Naryan Kayleys Mutter im silbernen Rolls-Royce ihres Gatten nach Hause bringen lassen, ein Wagen, so leise und schön, dass man kaum glauben mochte, dass es sich dabei um ein Auto handelte und nicht um ein Gefährt aus einem Traum.
Aber Kayley war viel zu müde, um irgendwohin zu gehen. Als sie ihre Arbeiten verrichtet hatte, griff sie zum Telefon, um Pippa anzurufen. Die Schule hatte eine Nummer des Ferienlagers für Notfälle hinterlassen, vielleicht war es am besten, sie zu warnen. Im letzten Moment legte Kayley den Hörer auf. Sie wollte Pippa nicht die Ferien verderben. Sie ging erschöpft zu Bett und versuchte zu schlafen.
Im Büro von Montgomerys Privatdetektei klingelte pausenlos das Telefon. Donald Fenton versuchte verzweifelt, Neuigkeiten über seinen Sohn in Erfahrung zu bringen, während Albina oben in Henrys Zimmer den funkelnagelneuen beigefarbenen Teppich vollweinte, der am Nachmittag geliefert worden war. Zum ersten Mal seit vielen Jahren trug sie kein Make-up.
17. Kapitel
Honey auf dem Hügel
Mick hatte den Kindern gezeigt, wie sie Todcaster auf dem schnellsten Wege verlassen konnten. Zuerst waren sie noch ruhige Landstraßen entlanggelaufen, doch je näher sie dem Moor kamen, desto schmaler wurden die Straßen und mündeten schließlich in holprige Feldwege.
Li-Chee sprang munter voran. Er war vorher schon ein kleiner Hund gewesen, aber nun, ohne seinen goldenen Pelz, war er winzig, nicht viel größer als eine gut genährte Ratte. Innen drin jedoch war er ein Löwe, und als Pippa versuchte, ihn ein Stück des Weges zu tragen, bellte er wütend. Doch nach einigen Stunden brauchte jeder von ihnen eine Pause.
Nun saßen sie an eine Mauer aus Feldsteinen gelehnt, um sie herum Felder und Hügel. Ein Brachvogel rief, ein sanftes Lüftchen wehte. Mick hatte es geschafft, etwas Brot und Butter für sie zu besorgen und ein paar Kekse, die sie mit den Hunden teilten.
»Ich hab keine Ahnung, warum er das alles für uns gemacht hat«, sagte Henry. »Ich hoffe, ich kann es ihm eines Tages vergelten.«
»Das kannst du, indem du einfach sein Freund bleibst«, sagte Pippa. Henry sah sie erstaunt an. Ihm war beigebracht worden, dass Freundschaft allein nicht reichte. Man musste im Gegenzug etwas geben: ein Geschenk oder Geld.
Sie wollten gerade wieder aufbrechen, da ertönte hinter einem der Hügel ein schriller Pfiff. Die Hunde spitzten erst die Ohren wie bei jedem neuen Geräusch, um sie gleich wieder einzuklappen, als nichts weiter folgte.
Doch was war mit Honey? Eben war sie noch bei ihnen gewesen, in der nächsten Minute war sie über die Mauer gesprungen und ward nicht mehr gesehen. Old Selby, der alte Hirte, hatte seine Hütte schlecht gelaunt verlassen. Sein Rücken schmerzte, seine Knie waren steif, doch das allein war es nicht, das ihm Sorgen machte. Seine Nichte hatte einen Platz in einem Altersheim für ihn gefunden, in dem er den Rest seines Lebens sicher und bequem verbringen konnte. Es nannte sich Rosewood und die Plätze dort waren heiß begehrt. Stolz hatte sie ihn herumgeführt.
»Merkst du, wie warm es ist?«, hatte sie gesagt und auf die Heizung gezeigt. »Und das Personal ist rund um die Uhr für dich da. Wenn du irgendetwas möchtest, musst du nur läuten.«
Das war wirklich sehr nett von seiner Nichte gewesen, doch wenn er nur an Rosewood dachte, brach ihm der Angstschweiß aus. Er hatte es in dem Zimmer nicht warm, sondern unerträglich stickig gefunden. Und als er aus dem Fenster geschaut hatte, waren da nur Häuser und noch mal Häuser.
Selby war nun seit über fünzig Jahren Schäfer. Er hatte immer in demselben Cottage aus Stein gelebt und die gleiche Schafrasse gezüchtet. Jeden Morgen war er vom Gesang der Vögel und dem Sausen des Windes aufgewacht. Aber das Alter hatte ihn überwältigt, genau wie seinen Hund Billy. Billy war einer der besten Hütehunde weit und breit gewesen, doch nun lahmte er und bekam schlecht Luft.
Nein, seine Nichte hatte recht, er konnte nicht mehr so weitermachen. Er musste seine Herde verkaufen und für Billy ein neues Heim finden und mit etwas Glück würden sie es beide nicht mehr lange machen.
Doch erst einmal mussten die Schafe vom Hügel runter und in den Pferch getrieben werden, wo das Desinfektionsbad auf sie wartete.
Der Hund hatte das schon tausendmal gemacht und er würde es auch wieder tun. So lange, bis er zusammenbrach, das wusste Selby.
Er nahm seinen Hirtenstab und schickte Billy los. Hechelnd vor Anstrengung lief er auf die Schafe zu und legte sich ein Stück entfernt von der Herde flach auf den Boden.
Der alte Selby steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Das war das Zeichen für Billy, dass er die Schafe zusammentreiben sollte. Die Tiere hatten sich in allen Richtungen verteilt und waren so dickköpfig, wie es nur Schafe sein können, außerdem wussten sie, dass Billy nicht länger eine Gefahr für sie darstellte so wie früher. Er begann sie zu umrunden, aber ein paar Mutterschafe brachen aus und liefen nach links. Der Hund trieb sie wieder zurück, doch nun hatte sich der Rest der Herde wieder getrennt. Ein altes Mutterschaf, mit dem nicht gut Kirschen essen war, hatte angefangen zu grasen.
Kopfschüttelnd sah der alte Selby das mit an. Es war hoffnungslos. Er war zu alt, um noch einen neuen Hund zu trainieren. Es gab keinen Ausweg, das Altersheim war die einzige Lösung.
Und während Selby diesen traurigen Gedanken nachhing, geschah etwas Schreckliches. Ein honiggelber Fleck erschien auf dem Hügel und sauste auf die Herde zu. Ein Fuchs? Nein, ein streunender Hund! Für die Schafe war das fast noch schlimmer.
»Verdammte Städter«, knurrte Selby. »Müssen immer ihre Köter von der Leine lassen.«
Mühsam stieg er den Hügel hoch und schwenkte drohend seinen Stock, dabei wusste er sehr gut, dass er damit nichts gegen einen Kampfhund würde ausrichten können.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.
Der fremde Hund hatte die widerborstigen Schafe in einem weiten Kreis umrundet und trieb nun mit gesenktem Kopf und voller Konzentration die Herde zu einem dichten Haufen zusammen, sprang mal nach rechts, mal nach links, um Ausreißer wieder einzufangen. Dann legte er sich mit aufmerksam gespitzten Ohren neben Billy auf den Boden und wartete auf Anweisungen.
Ein ausgebildeter Hirtenhund? Wie war das möglich?
Es erschien dem alten Selby wie ein Traum und trotzdem stieß er noch einmal einen Pfiff aus.
Und langsam, aber sicher begann der fremde Hund die Schafe den Hügel hinunter und in Richtung Pferch zu treiben. Ausbrechende Schafe wurden sofort wieder zurückgeholt. Der Hund schien zu wissen, was die Schafe vorhatten, noch bevor sie es selbst wussten. Jetzt sah Selby auch, dass es eine Hündin war. Sie war schnell wie der Wind, wenn es sein musste, aber sie bedrängte die Tiere nicht, biss ihnen nicht in die Waden. Mit Billy, der ihr so gut half, wie er konnte, trieb sie die Schafe genau dahin, wo sie hinsollten.
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