Vertrauensvoll stand Li-Chee vor ihr. Er hatte sie bereits ins Herz geschlossen. Sie hatte ihn gewählt und er hatte sie gewählt. Aber während sie ihn weiter striegelte, kam aus seiner Kehle ein leises Grollen und Nini legte die Bürste hin. Sie kannte diesen Laut, auf seine Art wollte der Hund ihr zu verstehen geben, dass er nicht gebürstet und nicht verehrt werden wollte.
Einen Moment lang saß Nini ganz still da und dachte nach. Dann schüttelte sie kurz den Kopf, als wollte sie all ihre Erinnerungen und ihren Kummer loswerden. Sie schaute sich in dem dämmrigen Raum um und sah die anderen Hunde. Sie dachte an das dünne Mädchen im Kindergarten, das sich an ihren Rock gehängt hatte und ihre Freundin sein wollte, an die Spiele, die sie im Garten von Greystoke House spielten, an das Eichhörnchen, das sie gezähmt hatten, an die Comics, die sie abends im Bett anschauten. Und sie dachte an Mick.
Es war an der Zeit, einen Schritt vorwärts zu machen.
»Warte auf mich«, sagte sie zu Li-Chee.
Nini schlich aus dem Keller und hoch in Mrs Platts Wohnzimmer. Sie wusste wo die Scheren waren, ganz unten in Mrs Platts Nähkorb.
Nini nahm sie und achtete darauf, dass sie sie mit den scharfen Spitzen nach unten hielt, so wie sie es gelernt hatte, dann ging sie zurück in den Heizungskeller. Es würde nicht leicht sein, aber sie wollte tapfer sein.
Li-Chee saß immer noch an dem gleichen Platz.
»Ich will dir nicht wehtun«, sagte Nini. »Beweg dich nicht.«
Dann begann sie zu schneiden und zu schnippeln und wieder zu schneiden und der goldene Seidenvorhang, der Li-Chee so lange zum Gefangenen gemacht hatte, fiel geräuschlos auf den Boden.
Pippa wachte als Erste auf und hatte Mühe, einen Entsetzensschrei zu unterdrücken.
»Um Himmels willen, was hast du getan? Der arme, arme Hund!«
Nini antwortete nicht, sie lächelte nur.
»Das ist sein Ende«, sagte Pippa. »Er wird nie wieder in einer Hundeshow auftreten können. Keiner wird ihn haben wollen.«
Doch nun erhob sich Li-Chee und schüttelte sich, um zu zeigen, dass es nichts mehr zu schütteln gab. Und dann gebärdete er sich wie toll. Er sauste kreuz und quer durch den Keller, wälzte sich auf den Rücken, streckte alle viere in die Luft und stieß dabei hohe Freudenschreie aus.
Li-Chee war glücklich. Er konnte sehen, er konnte sich bewegen, er war frei.
Endlich konnte er sich als der Hund zeigen, der er war. Ein Löwenhund, ein Kämpfer, der Wächter von Kaisern und kein verhätscheltes Spielzeug für alte Damen. Die leicht hervorstehenden Augen in seinem kleinen zerknautschten Gesicht glänzten vor Erwartung.
Jemand hatte ihn verstanden, jemand hatte entdeckt, wer er wirklich war!
Nun wachte auch Henry auf und sah, was passiert war, aber bevor er etwas sagen konnte, kam Mick herein und meinte, dass es höchste Zeit war, zu verschwinden.
16. Kapitel
Sprocket bekommt einen Anruf
Der Stallbursche verlor nicht viel Zeit. Sobald die Pferde für die Nacht versorgt waren, machte er seinen Anruf.
Curzon war allerdings schon längst nicht mehr im Büro. Er kehrte oft nach seiner langen Mittagspause nicht mehr zurück und Fiona ging dann natürlich auch. Also läutete das Telefon unten in Sprockets kleinem Kabuff.
Erfreut nahm er ab.
»Montgomerys Privatdetektei. Milton Sprocket am Apparat.«
Dann hörte er zu und wurde immer aufgeregter, während er versuchte, sich Notizen zu machen.
»Ich bin ganz sicher, dass er es ist«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Sieht genauso aus wie auf dem Foto. Stimmt das mit den 20 000 Pfund? Is kein Scherz oder so?«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Sprocket eifrig. »Sagen Sie mir bitte, wo genau Sie sich befinden. Geben Sie mir die Koordinaten durch.«
Aber der Stallbursche hatte noch nie was von Koordinaten gehört.
»Keine Ahnung, was Sie meinen, Chef. Wir sind in Todcaster mit Charlys Zirkus. Und Sie machen sich mal besser schnell auf den Weg, weil wir nämlich bald weiterziehen.«
Als er auflegte, war Sprocket in fieberhafter Aufregung. Ihm war klar, dass er sofort handeln musste. Er konnte nicht erst auf Curzons Anweisungen warten. Dazu kam noch, dass der Junge offensichtlich nicht gekidnappt worden war, wie jeder annahm, sondern weggelaufen. Es gab Kinder, die von zu Hause wegliefen, um zum Zirkus zu gehen, das wusste Sprocket, und das bedeutete in diesem Fall, dass der Junge sicher nicht wollte, dass man ihn ausfindig machte und nach Hause brachte. Und das wiederum bedeutete, dass Sprocket tief in die Verkleidungskiste greifen musste. Auch den Lieferwagen musste er tarnen, am besten wieder mit dem Gemüsehändlerspruch.
Sprocket lief zur Kommode und zog die oberste Schublade auf. Er gab sich große Mühe, keinen seiner Bärte zu bevorzugen, aber es gab einen, den er besonders mochte. Das war ein buschiger nussbrauner Schnauzbart, der sich auf seiner Oberlippe wie weiches Fell anfühlte. Er klebte ihn sich an und fühlte sich auf der Stelle bereit für ein großes Abenteuer. Dann packte er ein paar Perücken ein, ein Hörrohr und ein paar Pickel und Furunkel, aber keine Narben, man musste ja nicht gleich übertreiben. Zum Schluss steckte er noch die Flasche mit dem Kunstblut ein.
Sprocket rannte hin und her, um alles im Lieferwagen zu verstauen. Er installierte das neue Navigationsgerät, den Infrarotsensor, das Nachtsichtgerät …
Der Beutel, der Henrys Zahnbürste und seine Taschentücher enthielt, wanderte in ein Geheimfach hinter dem Fahrersitz.
Er entfernte das Schild, auf dem Was verlegt oder verloren? Nur die Ruh: Kommen Sie zu uns, wir finden es im Nu! stand, und ersetzte es durch das andere mit dem Spruch Ist Ihr Hunger groß und mächtig? Unser Obst ist reif und prächtig !, als ihm einfiel, dass er Curzon eine Nachricht hinterlassen musste. Also ging er noch einmal zurück an seinen Computer und schickte Curzon eine verschlüsselte Mail, in der stand, wohin er fuhr.
Dann manövrierte er den Lieferwagen aus der Garage und fuhr in Richtung Autobahn. Unterwegs kam er an einer Reihe von geschlossenen Geschäften vorbei. In einem davon brannte noch Licht und er konnte lesen, was auf dem Schild im Schaufenster stand: Rent-a-Dog – Rassehunde zum Ausleihen.
Gleichgültig fuhr Sprocket an dem Laden vorbei, er machte sich nichts aus Hunden.
Eigentlich hätte bei Rent-a-Dog um diese Zeit kein Licht mehr brennen dürfen. Kayley hatte seit einer Stunde Feierabend, außerdem war sie immer noch krank und gehörte ins Bett. Aber einer der Hunde, der Mastiff, der aus Versehen den Finger seines Frauchens gefressen hatte, hatte Fieber bekommen. Seine Nase war heiß und trocken und er verweigerte das Fressen. Kayley saß bei ihm und überlegte, ob sie um diese Uhrzeit noch den Tierarzt anrufen konnte. Nach Geschäftsschluss kümmerten sich die Carkers nicht mehr um ihre Hunde.
Kayley fühlte sich elend. Sie vermisste die Hunde aus Raum A mehr, als sie gedacht hatte, und sie machte sich schreckliche Sorgen wegen Pippa. Die Polizei war zurückgekommen und hatte noch mehr Fragen gestellt. Kayley spürte, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis herauskam, dass nicht sie, sondern Pippa am Sonntagabend im Rent-a-Dog -Gebäude gewesen war.
Sie zog sich gerade den Mantel an, als Queen Tilly wieder anfing zu jaulen. Sie war empört. Queen Tilly war eigentlich immer empört, aber seit ihre Zimmergenossen verschwunden waren, war das Leben bei Rent-a-Dog schier unerträglich geworden. Anstelle von Otto, Francine und den anderen waren fünf Hunde gekommen, die es einfach nicht verdienten, die gleiche Luft mit einem Hund zu atmen, der einer Thronerbin gehört und von silbernen Tellern gegessen hatte. Da gab es einen Airdale, der an Verdauungsstörungen litt, einen Dackel, der sabberte, und noch ein paar, die der Erwähnung nicht wert waren. Queen Tilly zuckte, quietschte, winselte und grollte, bis Kayley ihr ein weiteres Kissen in ihr gut gepolstertes Schlafkörbchen legte und ein wenig warme Milch brachte.
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