Das Waisenhaus lag in der Nähe eines Klosters, in dem die Mönche friedlich sangen und beteten, während ihre Wachhunde auf den steinernen Stufen saßen, um die bösen Geister fernzuhalten.
Eines Tages waren ein reicher Geschäftsmann und seine Frau auf die Insel gekommen, um dort Ferien zu machen. Sie hatten das kleine Mädchen gesehen, das ruhig unter einem Jacaranda-Baum spielte, und beschlossen, es zu adoptieren und mit nach England zu nehmen.
Die erste Zeit hatte es ihnen Spaß gemacht, ihre hübsche Tochter nett anzuziehen und mit ihr vor ihren Freunden anzugeben. Doch dann stellten sie fest, dass das kleine Mädchen nicht so schnell Englisch lernte, wie sie gehofft hatten. Ja, Nini sprach nicht nur nicht Englisch, sie sprach überhaupt nicht.
Sie schleppten sie von einem Arzt zum anderen und bekamen viele Diagnosen für das, was mit Nini nicht stimmte, aber keiner wusste, was zu tun war. Nini war nicht taub, auch ihre Augen waren in Ordnung, aber sie war eingeschlossen in ihrer eigenen Welt.
Als sie wieder einmal einen ganzen Tag lang in einem Krankenhaus verbracht hatte, um irgendwelche Tests zu machen, bekam sie einen fürchterlichen Wutanfall.
»Das ist typisch für die Asiaten«, hatte ein Freund gemeint. »Man nennt es Amoklauf.«
Das war zu viel für das Ehepaar, das doch eigentlich nur eine hübsche, plappernde Puppe hatte haben wollen. Sie brachten Nini zum Jugendamt und sagten, sie könnten sie unmöglich behalten. Seither befand sie sich in Greystoke House. Sie benahm sich nicht schlecht, sie war auch nicht schwierig, sie war praktisch nicht da.
Nun stieg sie aus dem Bett und lief leichtfüßig wie eine Elfe den Korridor entlang und in den Schlafsaal der älteren Jungen. Dem Jungen, dessen Bett direkt neben der Tür war, zog sie die Decke weg.
Mick erwachte, und als er Nini sah, setzte er sich auf.
»Der Zirkus ist da, Nini. Heute gehen wir in den Zirkus«, wiederholte er noch einmal.
Mick war ein kräftiger Bursche mit roten Haaren, Sommersprossen und einem fröhlichen, offenen Gesicht. Sein Großvater war Bergmann gewesen, bis man die Mine geschlossen hatte. Aus unerfindlichen Gründen war Mick Ninis Beschützer geworden und der Einzige, den sie überhaupt zur Kenntnis nahm.
»Es wird bestimmt ganz toll«, fuhr er fort. »Da gibt’s Pferde und Akrobaten und Clowns.«
Aber Nini antwortete nicht, sie schaute ihn nur an. Er hätte ihr genauso gut erzählen können, dass sie alle am Nachmittag zum Zahnarzt müssten.
Mick seufzte und griff nach seinen Kleidern.
Greystoke House war nicht weit von dem Platz entfernt, an dem der Zirkus sein Zelt aufgeschlagen hatte.
Angeführt von der rundlichen Mrs Platt und einer Aushilfe namens Doreen, machten sich die Kinder auf den Weg. Sie waren so aufgeregt und voller Vorfreude, dass sie den ganzen Weg über hüpften und sprangen. Nur Nini, die Micks Hand umklammert hielt, lief schweigend und ruhig neben ihm her.
Im Zirkus bereiteten sich alle auf die Vorstellung vor. Auf einer Bühne vor dem Zelt jonglierte ein kleiner Mann mit Schnurrbart mit vielen bunten Bälle. Ein anderer Mann in glitzernden Strumpfhosen schlug auf eine große Trommel.
»Kommen Sie, meine Herrschaften! Kommen und erleben Sie Charlys Zirkus, das achte Weltwunder!«, rief er.
Die Kinder aus Greystoke House waren früh dran. Sie setzten sich in die erste Reihe. Mick setzte sich neben einen Jungen in seinem Alter, der einen weißen Hund auf dem Schoß hatte. Neben ihm saß Nini, ihre Beine reichten nicht auf den Boden.
»Gleich geht’s los«, sagte Mick zu ihr.
Aber in dem maskenhaft schönen Gesicht rührte sich nichts.
Henry, der Fleck auf dem Schoß hielt, war vor Aufregung ganz schlecht. In einer halben Stunde sollte die Hundenummer beginnen, und wenn die schiefging, würde man sie aus dem Zirkus werfen. Trotzdem lächelte er dem Jungen zu, der gerade mit einer Kindergruppe hereingekommen war und sich neben ihn gesetzt hatte. Er hatte rotblondes Haar und sah sympathisch aus.
Langsam gingen die Lichter aus, die Kapelle fing an zu spielen. Mr Charly, der Zirkusdirektor, ließ seine Peitsche knallen.
Die Pferde trabten in die Manege, es folgten die Clowns, die Akrobaten, Pauline mit ihren Papageien. Beifall brandete auf und die Vorstellung begann.
Zuerst kamen die Texas Cowboys hereingaloppiert. Die drei Männer sprangen von einem glänzenden Pferderücken zum anderen. Dann traten die Fantastischen Danielas auf, eine Gruppe von Mädchen, die einander auf die Schultern stiegen, bis sie eine hohe Pyramide bildeten. Es erschien das Lustige Pony, das seinem Herrn durch die Manege folgte, wobei es versuchte, ihm Zuckerstücke aus der Hosentasche zu stibitzen … und bei einem atemberaubenden Hochseilakt taten die Artisten so, als würden sie sich gegenseitig vom Seil schubsen.
Henry hielt den Atem an. Gleich war es so weit. Fleck jaulte kurz auf und Henry machte »Pscht!«.
»Und nun, meine Damen und Herren, freuen Sie sich auf Elsas weltberühmte Hundenummer!«, verkündete der Zirkusdirektor.
Die Clowns schoben eine mit Wasser gefüllte Badewanne herein und schleppten Eimer und eine Leiter herbei, um die Hochzeit vorzubereiten. Aber natürlich ging alles schief. Von dem Tisch, den sie schrubbten, brachen die Beine ab, die Ballons, die sie aufbliesen, platzten oder flogen davon und einer der Clowns plumpste rücklings in die Badewanne.
In der Nähe des Eingangs war ein Zelt aufgestellt worden, auf dem stand »Kirche«, davor wartete Rupert mit Schlips und seidenem Frack auf die Braut. Clowns auf Stelzen kamen herein, sie trugen Tabletts mit Wackelpudding und bunte Luftschlangen, in denen sie sich verhedderten, sie schlugen wie wild um sich und taten so, als würden sie in Tränen ausbrechen.
Und nun, begleitet von einem Fanfarenstoß, erschien der von Otto gezogene Wagen. Auf den Sitzen saßen Li-Chee mit Babymützchen und Honey mit Rüschenhaube. Francine aber stand auf ihren Hinterbeinen. Mit ihrem weißen Brautkranz und dem begeisterten Bellen gab sie perfekt die erwartungsvolle Braut ab.
Doch nun geschah etwas, womit die Kinder nicht gerechnet hatte, das Publikum fing an zu klatschen. Immer lauter wurde es in seiner Begeisterung, und Otto fing an zu zittern. In der Schweiz hatte er sich allen möglichen Gefahren gegenübergesehen, er war steile Felsen hochgeklettert und in gefährliche Gletscherspalten gestiegen, um eingeklemmte Bergsteiger zu retten, aber dieser Lärm war einfach nur unerträglich. Der Bernhardiner rollte mit den Augen und blieb auf der Stelle stehen.
Li-Chee sprang mit schief sitzendem Mützchen von seinem Sitz und verschwand zwischen Ottos Beinen. Er wollte seinen Freund nur beruhigen, aber es sah so aus, als wollte er nun den Karren ziehen, und alles lachte. Nun nicht mehr über die Clowns, sondern über den ritterlichen kleinen Hund.
In diesem Augenblick drehte sich Mick erstaunt zu dem Mädchen neben ihm um. Nini lehnte sich gespannt nach vorn, ihr ganzes Gesicht leuchtete, die Augen hatte sie auf den Pekinesen gerichtet.
In der Manege wusste keiner, was er nun tun sollte. Otto stand mit gesenktem Kopf stocksteif da, keine zehn Pferde würden ihn dazu bringen, den Wagen bis zur Kirche ziehen.
Doch nun übernahm die bühnenerfahrene Francine, sie sprang von dem Karren, aber anstatt zu ihrem Bräutigam lief sie in die entgegengesetzte Richtung. Sie hatte kurzerhand das Drehbuch geändert und spielte nun die Braut, die sich nicht traut. Rupert begriff sofort und begann, Francine zu jagen, natürlich wollte er sich seine Braut nicht einfach durch die Lappen gehen lassen.
Er hatte die Hündin fast erreicht, da kletterte sie eine Leiter hoch und sprang von oben in die Arme eines Clowns. Rupert folgte ihr. Nun hatten auch die Clowns verstanden, worum es ging, und taten so, als wollten sie Francine einfangen. Sie griffen nach ihr, ließen sie wieder los und schlugen sich verzweifelt an die Stirn. Runde für Runde drehte die fliehende Braut in der Manege, sauste den Clowns zwischen den Beinen hindurch, sprang über Tische, versteckte sich hinter der Badewanne und jaulte dabei in gespielter Angst. Runde für Runde folgte ihr Rupert, der sitzen gelassene Bräutigam, und machte ihr jedes Kunststück nach.
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