Hanka wollte allein gehen. In jeder Beziehung zwischen Menschen sah er das Ende voraus und fürchtete es. Er sah das liebevollste Gesicht zu Haß und Würdelosigkeit verzerrt, und die Schönheit atmete ihm schon Fäulnis entgegen. Ihm hätte es gedient, in einer wandellosen Welt zu leben, in welcher das Wasser nicht die Erde höhlt und nicht der Freund einst zum Verleumder werden wird. Er lebte in allem was verdarb, was sich zum Tod neigte und an den Gesetzen der Veränderung teilnahm. Er sah das Wasser schon als Wolke, die Wolke als Regen. Keine Bewegung, kein Lächeln, kein Entschluß, der nicht den Lauf der Schicksale unterbrechen und verwandeln, keine Speise, kein Trunk, kein Härchen des Körpers, welches nicht auf seine besondere Weise das Ende bringen konnte.
Seine Logik war grausam, sein Scharfblick unbestechlich und sein Wissen profund. Dem grenzenlosen Schweifen unreifer Empirie setzte er die Formel entgegen, und zu anderer Zeit stieß er alles Lehrwerk wie morsche Hölzer beiseite und trat in den lichten Raum der Anschauung und der Idee.
Arnold kämpfte hier vergebens um Freundschaft. Er begann Hanka dunkel zu hassen. Er verlegte sich auf den leeren Widerspruch, auf eine scheinbare Verachtung von Hankas enger Sachlichkeit, und wie furchtbar war es ihm in manchem Augenblick zumut, wenn er ahnen mußte, daß er um etwas ganz anderes stritt, als was er vorgab. Er beneidete Hanka um die ruhige Überlegenheit, und mit formloser und zaghafter Begierde suchte er nach Mitteln des Sieges, irgendwelchen Sieges, um jeden Preis; er fürchtete sich vor der stummen Kritik in Hanka, wie er sich vor sich selbst, vor der Welt, vor der Vergangenheit und vor der Zukunft fürchtet. Eines Tages sah er bei Hanka in der Ecke des Schreibtisches eine kleine Pappendeckel-Tafel, auf welcher in Hankas Schrift die Worte standen: » Precaria salus: ich durchschritt die Pforten des Todes, ich betrat die Schwelle der Proserpina, und nachdem ich durch alle Elemente gefahren, kehrte ich zurück. In der Mitte der Nacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten Schein.«
Arnold las es und fragte ironisch: »Was ist das für ein Geschwätz? Schämen Sie sich nicht, solche Dunkelmeierei zu treiben?« Er nahm den Pappendeckel und ließ ihn geringschätzig fallen.
Hanka erwiderte ebenso bedächtig wie nachsichtig: »Das ist ein Spruch aus den Isis-Mysterien, mein Teurer.«
Nicht die Antwort oder der Ton bewirkte eine Veränderung in Arnold, so daß er schweigend zum Fenster trat. Nur Hankas Blick hatte ihn getroffen, groß, fragend, sehr erstaunt: was kann dich berechtigen, in mein Leben einzugreifen? nicht zu billigen, was ich denke –? fliehst du vielleicht aus dir, wunderlicher Mensch, und willst dich in einer fremden Wohnung niederlassen?
Als Arnold nach Hause kam, fand er einen Brief von Hyrtl. »Vergessen? gänzlich vergessen?« schrieb Hyrtl. »Vor einigen Tagen dachte ich wieder an Sie, und nun kann ich Sie nicht wieder loswerden. Kommen Sie doch! Ich darf nicht ausgehen. Kommen Sie heute Abend. Ich bin gänzlich verlassen, sitze zu Hause und bin übel dran. Das beste Backwerk Europas laß ich für Sie herrichten, und wenn Sie nicht reden wollen, können Sie bei mir auch schweigen. Nur kommen sollen Sie. Ich habe seit Monaten keinen wirklichen Menschen gesehen und bin allein. Bald wird es mit mir zu Ende gehen. Ihr Hyrtl.«
Gleichgültig warf Arnold das Schreiben beiseite. Dies weibliche Werben erregte seinen Abscheu. Er versuchte zu lesen, warf aber bald das Buch wieder weg, nahm Hut und Stock und ging ins Kaffeehaus. Doch auch hier hielt es ihn nicht lange. Die Straße lockte ihn. Langsam schlenderte er durch die Dämmerung, kehrte aber bald nach Hause zurück, denn zum Abendessen erwartete er Hanka. Oben auf der Treppe stand der eine Diener und murmelte mit zerknirschtem Gesicht: »Gnädiger Herr, es ist etwas passiert.« Arnold sah ihn von oben bis unten an; der junge Mensch ging voraus und öffnete die Türe zu dem Raum, worin der Antinous sich befand. Die Statue lag auf der Erde; der Kopf war gegen das Fenster gerollt und der linke Arm, ebenfalls abgebrochen, lag mit seiner schönen Geberde neben dem Leib. Es erwies sich, daß die beiden Diener während seiner Abwesenheit sich in jenem Zimmer mit Raufen vergnügt hatten. Sie waren an die Statue gestoßen und mitsamt der Figur zu Falle gekommen. Arnold sagte den zwei Leuten den Dienst auf und setzte sich dann traurig vor die Trümmer. Als Hanka kam, hoben sie zusammen den Rumpf empor und untersuchten die Bruchstellen. Hanka sagte, das Unglück sei nicht groß, es lasse sich mit geringen Kosten wieder gutmachen, aber ihn belustigte Arnolds Niedergeschlagenheit. »Seit wann lieben Sie denn die toten Dinge so sehr?« fragte er etwas ungeduldig.
Einundfünfzigstes Kapitel
Sie gingen in das Speisezimmer. Während des Essens erzählte Hanka, daß ihm der Verkauf seines Hauses, seiner Wertgegenstände, die Vereinfachung seiner Lebensweise nicht viel genützt habe. Er habe noch Schuldverpflichtungen im Betrag von fünfzehntausend Gulden. Außerdem stehe noch die Zahlung an seine frühere Gattin aus, und da dürfe er nicht lange zögern, schaltete er bitter ein, wo die Moralität eine Geldfrage sei. Er schrecke davor zurück, sich an seine Schwester Agnes zu wenden, die sich auf dem Wege der Genesung befinde und durch die leiseste Andeutung seines Ruins in ihrer schwachen Natur erschüttert werden könne.
Arnold hörte mit halbem Ohr zu. Nach einem neuen Gesprächsstoff suchend, erinnerte er sich an Hyrtls Brief und gab ihn Hanka. Der las ihn zweimal, betrachtete das Papier von allen Seiten und fragte endlich: »Weshalb sind Sie nicht zu ihm gegangen?«
Arnold zuckte die Achseln. »Der Mann lügt«, sagte er kalt. »Nicht der Tat nach, sondern dem Gefühl nach.«
»So lügt man nicht«, antwortete Hanka kopfschüttelnd. »In früherer Zeit bin ich oft mit Hyrtl beisammen gewesen, meist durch Natalie Osterburg. Er ist ein gutmütiger Mensch.«
»Hyrtl freut sich seiner Wehleidigkeit«, sagte Arnold lebhaft, »er würde mit Vergnügen sterben, wenn er den Eindruck seines Todes erleben könnte.«
Hanka schmunzelte, schaute aber Arnold ziemlich überrascht ins Gesicht.
»Sie sind ja ein Psycholog«, erwiderte er. »Aber das ist eigentlich nicht die rechte Art. Ich meine, diese Art, ein Urteil zu bilden und einen Menschen für alle Zeiten abzufertigen. Nein, das ist nicht gut.«
Arnold wollte etwas entgegnen, doch es läutete draußen, und darnach kam der Diener und meldete Herrn Hyrtl. Arnold und Hanka sahen einander an.
Mit steifen Schrittchen trat Hyrtl ein. Er reichte beiden die Hand und setzte sich. »Kinder, wenn ihr wüßtet, was es heißt, allein zu sein!« sagte er mit einem Seufzer, welchem er etwas Scherzhaftes beizumischen versuchte. »Man sieht Gesichter in der Luft, die Wände schrumpfen zusammen, das Zimmer wird bodenlos.« Hyrtls Augen lagen tief und irrten angstvoll in den Höhlen, und auf der Stirne brach beständig Schweiß hervor, den er mit dem Taschentuch von Zeit zu Zeit abwischte. Hanka hörte nicht auf, ihn zu betrachten; bisweilen warf er einen hastigen Seitenblick auf Arnold, der schweigend den Rauch einer Zigarre in dünnen Kegeln emporblies.
»Und wie geht es Ihnen also, mein Liebster?« wandte sich Hyrtl an Arnold und in seinem Blick glühte ehrliche Freundschaft, rührende Hingebung. Er sah in Arnold das Leben, die Gesundheit, die Kraft, und es war ihm dabei zumut wie dem Sklaven, der einen Adler in der blauen Luft schweben sieht.
»Gut, sehr gut«, antwortete Arnold trocken. »Und Sie, Sie sind krank wie immer. Raffen Sie sich doch auf! Warum rauchen Sie, wenn es Ihnen schädlich ist? Welche Widersprüche!«
Hyrtl wiegte den Kopf, als ob ihm kein Ratschlag mehr nützen könne. »Jetzt ist mir wieder wohl«, sagte er. »Ich habe meinen Arzt betrogen und bin ausgegangen. Wenn ich liebe Menschen sehe, gehts mir gut. Nun, was wollen Sie, ich bin ein Schwächling. Und Sie, Doktor«, wandte er sich an Hanka, »was treiben Sie? Hanka ist ein ehrenhafter Mensch«, bemerkte er nach seiner Gewohnheit, einen Anwesenden rücksichtslos ins Gesicht zu loben. »Wenn das Wort ehrenhaft nicht da wäre, für Hanka müßte man es erfinden.«
Читать дальше