Ein langes Schweigen entstand. Elasser blickte Arnold verwundert und immer mehr verwundert ins Gesicht. Endlich sagte er zu seinem Begleiter, dessen Züge die Gewohnheit des Wohlwollens und der Milde verrieten: »Das ist der Herr von Ansorge, ders so gut meint mit uns.«
Der Alte ließ sein Köpfchen hin und her pendeln, das trotz seiner Kleinheit den Schultern eine zu schwere Last war.
»Wie steht es also?« fragte Arnold ungeduldig.
»Es steht schlecht,« sagte Elasser. »Keine Hand bewegt sich. Es werden Erhebungen angestellt, heißts, und mich haben sie herumgehetzt wie einen Hund, und ich soll warten. Nun, ich wart, wir warten lang genug, is es gefällig? In vier Wochen wird Jutta vierzehn Jahr alt und dann ist keine Hoffnung mehr.«
»Es ist in der Schrift geschrieben,« mahnte der Fremde, »man soll das Unrecht sich ergießen lassen ganz.«
»Eine schöne Schrift!« rief Arnold empört. »Wartet ihr darauf, bis man euch den Kopf abschlägt?«
Elasser machte eine weitausholende Bewegung mit den Armen. »Herr,« antwortete er, »Sie kommen mir wahrlich vor wie jener Jud, der nicht hat lernen wollen Deutsch, weil er hat geglaubt, die ganze Welt ist jüdisch. Die Welt ist nicht jüdisch, gnädiger Herr. Das Recht ist für Sie und nicht für uns.«
Langsam waren die drei gegen das Flußufer gegangen. Arnold stieß mit dem Fuß einen Stein ins Wasser und heftig bewegt sagte er: »Aber wie könnt ihr ruhig dastehen, Leute, und schwätzen, immer schwätzen! Es ist ja die niederträchtigste Teufelei, wenn ihr euch nicht rührt um eure Sachen. Mein Recht ist euer Recht, und euer Recht ist Kaisers Recht. Da ist nicht daran zu tifteln. Die Gerechtigkeit ist für alle.«
»Der Herr ist in einem großen Irrtum,« erwiderte Elasser finster. »Das Recht ist da; auch die Richter sind da; gleichfalls die Bücher, worein alles steht geschrieben. Aber die Gerechtigkeit? Die ist nicht da.«
Verächtlich spuckte Arnold auf die Erde und entgegnete mit äußerster Feindseligkeit: »Lügner und Faulenzer seid ihr.«
Der fremde alte Mann stand mit gesenktem Kopf. Die Weltanschauung der Geduld, die ihm Nieren und Hirn geformt hatte, geriet plötzlich in einen geheimnisvollen Aufruhr. In seinen langen Lebensjahren hatte er genug gesehen an Vergewaltigung des Rechts, an blutigen Wunden, welche die Unschuld trug, an tyrannischem Übereinkommen der Mächtigen, um in einem eingebildeten Rächer den letzten Trost zu finden. Nun ging ein Blitz über ihm nieder und zündete in seiner Brust, deren Empfindungen schon versteinert schienen. Nicht Arnolds Worte hatten das vermocht. Was waren ihm Worte! Auch das Unglück des ihm blutsverwandten Elasser nicht, obwohl dies böswillige Hinziehen, dies tückische Verbergen, dieser eingestandene Raub, dies Schauspiel öffentlicher Schmach und Feigheit auch Gleichgültige erregt hatte. Das Neue kam von Arnold her. Berauschend strömte der wilde Idealismus auf ihn ein, befeuerte ihn, und er gedachte seiner eigenen unerfüllten Jugend. »Ja, Samuel,« sagte er mit veränderter Stimme, »du mußt deine Pflicht erfüllen. Wir wollen vor den Kaiser hintreten. Gern will ich das Geld, was du brauchst, hergeben, denn es ist zum guten Zweck. Es ist uns schon gesagt worden, daß wir können eine Audienz bekommen und Seine Majestät wird uns anhören.«
»Er wird richten,« sagte Arnold befriedigt.
»Ich will nicht sagen, er wird,« antwortete der Alte mit feinem Lächeln, »aber es kann sein. Reisen wir also nach Wien, Samuel.«
Elasser starrte bewegt vor sich hin. Während die beiden Alten sich noch beredeten, kniete Arnold am Flußufer nieder, nahm die Mütze ab, legte die Binde beiseite, die seinen Hals umschloß, stülpte die Ärmel bis an die Ellenbogen auf und wusch sich das Gesicht mit dem eiskalten Wasser. Darauf wurde ihm wohl und kühl.
Die nachgesuchte, durch einflußreiche Personen unterstützte Audienz des Juden Elasser beim Monarchen wurde genehmigt. Eine jener Zeitungen, welche die öffentliche Meinung beherrschen, schrieb, daß die Angelegenheit, welche solange das Staunen und die Beunruhigung aller Redlichdenkenden verursacht habe, nun endlich vor eine Instanz gelangt sei, bei der es kein Zaudern und keinen Umweg gebe.
Von den Einzelheiten der Audienz wurde wenig bekannt. Der Monarch geruhte, die ihm überreichte Bittschrift aufmerksam durchzulesen und richtete dann an den unglücklichen Vater, der schluchzend vor ihm kniete, die verheißungsvollen Worte: »Ich werde neue Weisungen an die Behörden geben, damit sie ihre Pflicht und Schuldigkeit tun.« In der Tat wurden schon zwei Stunden nach der Audienz Befehle solcher Art erlassen.
Aber Tag auf Tag verging ohne Botschaft und Erfolg. Als Elasser erfuhr, daß Jutta im Kloster bei Tarnobrzeg gesehen worden sei, wandte er sich telegraphisch an den Bezirksrichter, doch dieser wies ihn an denselben Staatsanwalt, der schon früher jeden Antrag abgelehnt hatte. Elasser ging zum Ministerpräsidenten, welcher auf seine Bitte um Schutz erwiderte: »Sie verdienen es, das gebührt Ihnen.« Es geschah nichts. Elasser wandte sich an den Justizminister und erhielt die Versicherung, daß von der Statthalterei alles aufgeboten werden würde, um den Aufenthaltsort des Mädchens zu ermitteln. Es solle alles aufgeboten werden, um dem Vater seine Tochter vor dem 10. Februar wiederzugeben, an welchem Tag sie das religionsmündige Alter erreicht haben würde. Elasser wartete. Das Leutebereden, In-Vorzimmern-Hocken, Bitten, Sichverbeugen, Erklären nahm kein Ende. Man schüttelte den Kopf, gab Ratschläge, war bedenklich, zerstreut, ergriffen, beschäftigt, ängstlich oder von frecher Deutlichkeit. Die Zeit ging hin. Ein anderer Skandal erweckte die Aufmerksamkeit der Menge. Elasser sagte sich, Jutta sei tot. Ihn zog es nach Hause. Er hatte sich müdgegangen, müdgeredet, müdgebettelt, müdgehofft. Am letzten Tage faßte er sich noch einmal zu einem letzten Gang zusammen; es gelang ihm, den Minister für Galizien zu ungewohnter Stunde zu sprechen. In drangvoll verhaltener Wildheit stellte er eine letzte Frage, um dann für immer zu erschlaffen. Die würdige alte Exzellenz, menschlich erschüttert, verlor den öffentlichen Tonfall und sagte die denkwürdigen Worte »An den Mauern des Klosters hat unsre Macht ein Ende.«
Das war am 5. Februar.
Mitte Januar gelangte die Kunde von dem gnädigen Versprechen des Kaisers nach Podolin und zu Arnold. Er hatte etwas andres kaum erwartet. Seit dem Gespräch mit Elasser hatte eine gleichmäßige Ruhe und Zuversicht von ihm Besitz genommen.
Als er die Nachricht vernommen hatte, kam ein ungestümer Drang nach körperlicher Tätigkeit über Arnold. Er nahm Besen und Schaufel zur Hand, ging in den Hof und begann, einen Weg in den fußhohen Schnee zu schaufeln. Eine Stunde lang arbeitete er, ohne auszusetzen. Die Luft war rein und es war sehr kalt. Arnold, in Schweiß gebadet, blickte empor, als am Zaun eine herrische Baßstimme erschallte. Den Schirm aufgespannt, von den hohen Stulpenstiefeln den Schnee stampfend, stand der Pfarrer dort. Arnold trat näher. Der geistliche Herr fragte nach Frau Ansorge. »Die Mutter ist krank,« erwiderte Arnold etwas verwundert. Desto mehr Grund für den Seelsorger, sie zu besuchen, war die herrische Antwort.
Arnold überlegte und schritt dann dem Pfarrer voran. Frau Ansorge wandte den Eintretenden langsam das Gesicht zu. Der Geistliche nahm Platz, schaute die Kranke fest an, erkundigte sich nach ihrem Befinden, und als Frau Ansorge zur Erwiderung gleichgültig und unbestimmt die Lider senkte, befeuchtete er die Lippen mit der Zunge und sagte: »Warum kommt der junge Ansorge weder in die Kirche noch zur Beichte? Haben Sie Ihren Sohn nicht in der Furcht und Anbetung des dreieinigen Gottes erzogen? Ich warte schon lange auf ihn, aber er macht mein Harren zuschanden. Böse Umtriebe stecken in ihm, mit den Gottlosen ist er im Bund. Darum bin ich hier und frage: haben Sie Ihre Pflicht als Mutter erfüllt, liebe Frau?«
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