Mathilde entwickelte all ihre Beredsamkeit.
»Himmel und Hölle!« schwor er bei sich. »Ich lege keine Berufung ein!«
Nach diesem Entschluß verlor er sich in Träumerei. »Früh um sechs wird der Briefträger wie alle Tage die Zeitung bringen, und um acht Uhr, wenn Herr von Rênal fertig mit Lesen ist, wird Jungfer Elise auf den Fußspitzen in ihr Zimmer kommen und ihr das Blatt aufs Bett legen. Nach einer Weile wird sie erwachen und beim Lesen totenblaß werden. Und sie wird lesen bis zu den Worten: Um zehn Uhr und soundso viel Minuten war es um ihn geschehen … Da wird sie heiße Tränen vergießen. Ich kenne sie. Wenn ich sie auch habe ermorden wollen: alles wird vergeben und vergessen sein! Und der Mensch, dem ich das Leben rauben wollte, der wird der einzige sein, der meinen Tod aufrichtig beweint … Welch ein Widerspruch!«
Während Mathilde in einem fort weiterredete, träumte Julian eine volle Viertelstunde immer nur von Frau von Rênal. Willenlos und obwohl er Mathilden hin und wieder auf ihre Worte mechanisch antwortete, vermochte er seine Gedanken nicht aus dem Schlafzimmer der Frau von Rênal zu Verrières zurückzurufen. Deutlich sah er die Besançoner Zeitung auf der orangegelben seidnen Steppdecke liegen. Er sah, wie die weißen Hände das Blatt krampfhaft zerknitterten. Er sah, wie Frau von Rênal weinte. Er sah Träne um Träne langsam über ihr schönes Gesicht hinabrinnen …
Als sich Mathilde klar ward, daß sie nichts erreichen konnte, ließ sie den Anwalt eintreten. Aus rein äußerlichen Gründen versuchte er, den Entschluß des Angeklagten rückgängig zu machen. Julian, der ihn achtungsvoll behandeln wollte, setzte ihm seinen Standpunkt genau auseinander.
»Mein Gott«, sagte der Anwalt schließlich, »ich kann Ihnen das nachfühlen. Aber Sie haben ja drei volle Tage Zeit mit der Berufung. Ich werde nicht versäumen, täglich wiederzukommen. Wer weiß, was in acht Wochen alles passiert. Schließlich können Sie bis dahin auch an einer Krankheit gestorben sein.«
Julian drückte ihm die Hand.
»Ich danke Ihnen«, sagte er. »Sie sind ein wackerer Mann! Ich werde mir’s überlegen.«
Als dann Mathilde zusammen mit dem Anwalt hinausging, empfand er erheblich mehr Freundschaft zu ihm als zu ihr.
Eine Stunde später, als er von neuem fest eingeschlafen war, wurde er durch Tränen geweckt, die ihm über die Hand rannen. »Schon wieder Mathilde!« dachte er, noch halb im Schlafe. »Sie will mich durch Sentimentalitäten kirre machen…«
Verdrießlich über die Aussicht auf eine neue Szene im pathetischen Stile, hielt er seine Augen geschlossen. Ein paar Verse aus einer der Contes von Lafontaine kamen ihm in den Sinn: Belphegor auf der Flucht vor seiner Frau. Da hörte er ein eigentümliches Seufzen. Er schlug die Augen auf und erblickte Frau von Rênal.
Im Augenblick lag er ihr zu Füßen.
»Oh! Sehe ich dich noch einmal, ehe ich sterbe!« rief er. »Oder ist es ein Traumbild?«
Ganz wach werdend, fügte er hinzu: »Verzeihung, gnädige Frau. Für Sie bin ich nur ein Mörder!«
»Herr Julian«, sagte sie in schlichtem Tone, »ich komme, Sie zu beschwören: Legen Sie Berufung ein! Ich weiß, Sie wollen es nicht…«
Vor Schluchzen konnte sie nicht weitersprechen.
»Ich flehe Sie an, vergeben Sie mir!«
Sie warf sich in seine Arme.
»Wenn du willst, daß ich dir verzeihe, dann mußt du sofort Berufung gegen das Todesurteil einlegen!«
Julian hörte nicht auf, sie zu küssen.
»Willst du mich bis zur Entscheidung alle Tage besuchen?« fragte er. »Es wird acht Wochen dauern.«
»Ich schwöre es dir. Ich will alle Tage kommen, wenn es mir mein Mann nicht verwehrt.«
»Gut! Ich unterschreibe«, erklärte Julian. »Verzeihst du mir wirklich? Ist dies möglich?«
Er drückte sie fest an sich, ganz von Sinnen. Sie stieß einen leisen Schrei aus.
»Was hast du!«
»Nichts. Du hast mir ein wenig weh getan.«
Julian brach in Tränen aus, gab sie frei und bedeckte ihre Hand mit heißen Küssen.
»Wer hätte das gedacht, als ich dich zum letzten Male in deinem Zimmer in Verrières küßte!«
»Und wer hätte mir damals gesagt, daß ich einen so infamen Brief an Herrn von La Mole schreiben würde…«
»Glaube mir: immer nur habe ich dich geliebt, immer nur dich und keine andre!«
»Ist dies möglich?« rief Frau von Rênal glückselig.
Sie legte ihren Kopf an Julians Schulter, während er vor ihr kniete. Lange weinten sie beide wortlos. Nie in seinem ganzen Leben hatte er einen ähnlichen Augenblick gehabt.
Nach einer langen Weile, als sie wieder zu sprechen vermochte, fragte Frau von Rênal: »In welchen Beziehungen stehst du zu der jungen Frau … dem Fräulein von La Mole? Ich bin nahe daran, an den seltsamen Roman zu glauben.«
»Der Schein trügt«, entgegnete Julian. »Sie ist meine Frau, aber nicht meine Geliebte…«
Indem sie sich hundertmal unterbrachen, gelang es ihnen schließlich, sich gegenseitig über das zu unterrichten, was sie voneinander nicht gewußt hatten. Den Brief an den Marquis hatte der junge Priester aufgesetzt, der seit einiger Zeit Frau von Rênals Beichtvater war. Sie hatte ihn nur abgeschrieben.
»Zu welch schauderhafter Tat hat mich der Glaube gezwungen!« klagte sie. »Dabei habe ich die gräßlichsten Stellen noch gemildert!«
Julians Glücksrausch bewies ihr zur Genüge, daß er ihr verzieh. Nie war er so liebestoll gewesen.
»Ich halte mich trotzdem für fromm«, sagte Frau von Rênal im Laufe des Gesprächs. »Ich glaube aufrichtig an Gott. Ebenso glaube ich … und darüber gibt es wohl keinen Zweifel … daß ich eine abscheuliche Sünde begehe … und doch, jetzt, wo ich bei dir bin … trotzdem du zweimal auf mich geschossen hast …«
Ohne daß sie es wollte, verstummte sie unter Julians Küssen.
»Laß mich!« bat sie. »Ich will vernünftig mit dir sprechen … Jetzt, wo ich bei dir bin, entschwinden mir alle meine Pflichten. Ich bin nichts als Liebe zu dir … Ach, das Wort Liebe ist viel zu schwach … Ich fühle für dich, was ich einzig und allein für Gott fühlen dürfte: ein Gemisch von Anbetung, Inbrunst und Selbstvergessenheit … Ach, was weiß ich, zu was sonst noch du mich begeisterst? Wenn du mir sagtest, ich solle den Gefängniswärter erdolchen: ehe es mir voll bewußt würde, wäre die schreckliche Tat geschehn. Kannst du mir nicht erklären, was das ist? Ehe ich von dir gehe, möchte ich mein eignes Herz kennen. In acht Wochen müssen wir voneinander scheiden … Sag, werden wir wirklich voneinander gehn?«
Sie lächelte bei den letzten Worten.
»Ich nehme mein Wort zurück!« rief Julian aufspringend. »Ich lege keine Berufung gegen das Todesurteil ein, wenn du etwa vorhast, durch Gift, durch eine Kugel, durch ein Messer, durch Kohlengas oder sonstwie deinem Leben ein Ende zu setzen!«
Frau von Rênals Gesichtsausdruck änderte sich mit einem Male. An Stelle inniger Zärtlichkeit trat tiefe Versonnenheit.
»Wollen wir nicht zusammen in dieser Stunde sterben?« fragte sie leise.
»Wer weiß, was wir im Jenseits finden!« erwiderte Julian. »Wahrscheinlich nichts. Wollen wir da nicht lieber noch zwei köstliche Monate miteinander verleben? Acht Wochen, das ist eine lange Frist! Es soll die glücklichste Zeit meines Lebens werden!«
»Die glücklichste Zeit deines Lebens?«
»Gewiß! Ich spreche zu dir wie zu mir selbst, offen und ehrlich, ohne Übertreibung.«
»Das heißt, du verlangst von mir, daß ich ebenso spreche«, sagte sie, scheu und trübsinnig lächelnd.
»Ja! Schwöre bei deiner Liebe zu mir, daß du dir weder mittelbar noch unmittelbar ein Leid antun wirst! Du mußt leben! Schon um meines Sohnes willen! Mathilde wird ihn den Dienstboten überlassen, sobald sie Frau von Croisenois ist…«
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