„Ich schwöre es!“ Der Scheich ringt nervös mit den Händen. Du erkennst es als verräterisches Zeichen. „Es gab andere Unterhaltungen über die Pläne, aber sie waren auf Deutsch, Russisch ... Ich habe sie nicht verstanden!“
„Wissen Sie, Scheich … eine Kugel klingt in jeder Sprache gleich.“
Reid wurde zurück in die Realität der Bar gerissen. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Die Erinnerung war so intensiv gewesen, so lebendig und klar wie jede andere, die er tatsächlich erlebt hatte. Und es war seine eigene Stimme in seinem Kopf gewesen, die beiläufig drohte und Dinge sagte, die er im Traum nicht zu einem anderen Menschen sagen würde.
Pläne. Der Scheich hatte definitiv etwas über Pläne gesagt. Was auch immer die schreckliche Sache war, die an seinem Unterbewusstsein nagte, er hatte das eindeutige Gefühl, dass sie noch nicht passiert war.
Er nahm einen Schluck seines jetzt lauwarmen Kaffees, um seine Nerven zu beruhigen. „In Ordnung“, sagte er zu sich selbst. „In Ordnung.“ Während seiner Befragung im Keller hatten sie nach anderen Agenten im Feld gefragt und drei Namen waren ihm durch den Kopf gegangen. Er schrieb einen auf und las ihn dann laut vor. „Morris.“
Sofort erschien ein Gesicht vor seinem geistigen Auge, ein Mann Anfang dreißig, gutaussehend und er wusste es. Ein großspuriges Halbgrinsen mit nur einer Hälfte seines Mundes. Dunkle Haare, die so gestylt waren, dass er jung aussah.
Ein privater Flugplatz in Zagreb. Morris sprintet neben dir. Ihr beide habt eure Waffen gezogen, Lauf nach unten gerichtet. Ihr könnt nicht zulassen, dass die beiden Iraner das Flugzeug erreichen. Morris zielt zwischen zwei Schritten und gibt zwei Schüsse ab. Einer trifft einen Unterschenkel und der erste Mann fällt. Du zielst auf den anderen und bringst ihn brutal zu Boden …
Noch ein Name. „Reidigger.“
Ein jungenhaftes Lächeln, ordentlich gekämmtes Haar. Ein kleiner Bauch. Das Gewicht würde ihm besser stehen, wäre er ein paar Zentimeter größer. Der Grund vieler Witze, aber er nahm es gutmütig.
Das Ritz in Madrid. Reidigger bewacht den Flur, während du die Tür eintrittst und den Attentäter außer Gefecht setzt. Der Mann greift nach der Waffe auf seinem Schreibtisch, aber du bist schneller. Du brichst sein Handgelenk … Später erzählt Reidigger, dass er das Geräusch draußen auf dem Flur hören konnte. Ihm wurde schlecht davon. Alle lachen.
Der Kaffee war nun kalt, aber Reid merkte es kaum. Seine Finger zitterten. Es gab keinen Zweifel; was auch immer mit ihm geschah, dies waren Erinnerungen – seine Erinnerungen. Oder die von jemand anderem. Die Entführer hatten ihm etwas aus dem Hals geschnitten und es als einen Erinnerungsunterdrücker bezeichnet. Das konnte nicht wahr sein; er war das nicht. Das war jemand anderes. Er hatte die Erinnerungen einer anderen Person, die sich mit seinen eigenen mischten.
Reid setzte den Stift wieder auf die Serviette und schrieb den letzten Namen. Er sagte ihn laut: „Johansson.“ Eine Gestalt kam ihm in den Kopf. Lange blonde Haare mit gepflegtem Glanz. Hohe, formschöne Wangenknochen. Volle Lippen. Graue Augen, die Farbe von Schiefer. Eine Vision blitzte auf …
Mailand. Nacht. Ein Hotel. Wein. Maria sitzt mit ihren Beinen im Schneidersitz auf dem Bett. Die obersten drei Knöpfe ihrer Bluse sind offen. Ihre Haare sind zerzaust. Du hast nie zuvor bemerkt, wie lang ihre Wimpern waren. Zwei Stunden zuvor hast du ihr dabei zugeschaut, wie sie zwei Männer in einer Schießerei getötet hat und jetzt gibt es Sangiovese und Pecorino Toscano. Eure Knie berühren sich fast. Ihr Blick trifft deinen. Keiner von euch sagt etwas. Du kannst es in ihren Augen sehen, aber sie weiß, dass du nicht kannst. Sie fragt nach Kate …
Reid zuckte zusammen, als er plötzlich Kopfschmerzen bekam, die sich wie eine Sturmwolke in seinem Schädel ausbreiteten. Im selben Augenblick verschwand die Vision und verblasste. Er kniff die Augen zusammen und massierte für eine Minute seine Schläfen, bis die Kopfschmerzen nachließen.
Was zur Hölle war das gewesen?
Aus irgendeinem Grund schien die Erinnerung an diese Frau, Johansson, die kurze Migräne verursacht zu haben. Noch beunruhigender war jedoch das bizarre Gefühl, dass er während der Kopfschmerzen gespürt hatte. Es fühlte sich wie … Verlangen an. Nein, es war mehr als das – es fühlte sich wie Leidenschaft an, die von Aufregung und ein bisschen Gefahr noch verstärkt wurde.
Er kam nicht umhin, sich zu fragen, wer diese Frau war, aber versuchte den Gedanken beiseite zu schieben. Er wollte nicht noch mehr Kopfschmerzen verursachen. Stattdessen setzte er den Stift wieder auf die Serviette auf, um den letzten Namen zu schreiben – Null. So hatte ihn der iranische Vernehmer genannt. Aber noch bevor er ihn aufschreiben oder wiederholen konnte, hatte er eine seltsame Empfindung. Die Haare seines Nackens standen ihm zu Berge.
Der wurde beobachtet.
Als er wieder aufblickte, sah er einen Mann im dunklen Eingang des Félines stehen. Er hatte Reid im Visier wie ein Falke, der eine Maus beobachtete. Reids Blut wurde kalt. Er wurde tatsächlich beobachtet.
Dies war der Mann, den er hier treffen sollte, dessen war er sich sicher. Hatte er ihn erkannt? Die arabischen Männer hatten nicht so geschienen. Hatte dieser Mann jemand anderen erwartet?
Er legte den Stift ab. Langsam und heimlich zerknüllte er die Serviette und ließ sie in seinen halbleeren kalten Kaffee fallen.
Der Mann nickte einmal. Reid nickte zurück.
Dann griff der Fremde nach hinten, nach etwas, das in seiner Hose steckte.
Reid stand so ruckartig auf, dass sein Stuhl beinahe umkippte. Seine Hand legte sich sofort um den Griff der Beretta, die von seinem Rücken warm geworden war. Seine Gedanken schrien ihn verzweifelt an. Dies ist ein öffentlicher Ort. Es sind Leute hier. Ich habe noch nie eine Waffe gefeuert.
Bevor Reid seine Pistole herausziehen konnte, zog der Fremde eine Brieftasche aus seiner Gesäßtasche. Er grinste Reid an, ganz offensichtlich amüsiert darüber, wie nervös er wirkte. Niemand anderes in der Bar schien es bemerkt zu haben, nur die Kellnerin mit dem verwüsteten Haar, die einfach nur eine Augenbraue hob. Der Fremde ging an die Bar, schob einen Geldschein über den Tresen und murmelte dem Barkeeper etwas zu. Dann begab er sich zu Reids Tisch. Für einen langen Moment stand er hinter dem leeren Stuhl mit einem dünnen Grinsen auf seinen Lippen.
Er war jung, höchstens 30 Jahre alt, mit kurzgeschnittenen Haaren und winzigen Bartstoppeln. Er war ziemlich schlaksig und sein Gesicht schien ausgemergelt, was seine markanten Wangenknochen und das hervorstehende Kinn fast wie eine Karikatur wirken ließ. Am auffälligsten war jedoch die schwarze Hornbrille, die er trug, mit der er für die ganze Welt so aussah, als wäre er Buddy Holly, der in den achtziger Jahren aufgewachsen war und Kokain entdeckt hatte.
Er war Rechtshänder, wie Reid sofort erkannte; sein linker Ellbogen lag dicht an seinem Körper an, was wahrscheinlich bedeutete, dass er eine Pistole in einem Schulterhalfter unter der Achsel hatte, die er notfalls mit der rechten Hand ziehen konnte. Mit seinem linken Arm hielt er seine schwarze Wildlederjacke nah am Körper, um die Waffe zu verbergen.
„Mogu siediti?“, fragte der Mann endlich.
Mogu...? Reid verstand es nicht sofort, so wie er Arabisch und Französisch verstanden hatte. Es war kein Russisch, aber ähnlich genug, um die Bedeutung aus dem Zusammenhang heraus abzuleiten. Der Mann fragte, ob er sich setzen könne.
Reid deutete auf den leeren Stuhl ihm gegenüber und der Mann setzte sich, während er seinen linken Ellbogen die ganze Zeit gebeugt hielt.
Sobald er Platz genommen hatte, brachte die Kellnerin ein Glas dunkles Bier und stellte es vor ihm hin. „Merci“, sagte er. Er grinste Reid an. „Ist Ihr serbisch nicht so gut?“
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