1 ...8 9 10 12 13 14 ...24 Es fühlte sich so an, als ob jeder neue Anblick den Hauch einer vagen Erinnerung hervorrief, jede unabhängig von der nächsten, aber doch immer irgendwie übereinstimmend. Er wusste, dass das Café an der Ecke die besten Pasteten servierte, die er je probiert hatte. Bei dem süßen Duft der Konditorei auf der anderen Straßenseite lief ihm das Wasser im Mund zusammen, weil er an herzhafte Schweineohren dachte. Er hatte noch nie zuvor Schweineohren gegessen. Oder doch?
Selbst Geräusche erschütterten ihn. Passanten unterhielten sich miteinander, während sie den Boulevard entlangschlenderten. Gelegentlich richteten sich einige Blicke auf sein verbundenes, verletztes Gesicht.
„Ich würde wirklich nicht den anderen Typen sehen wollen“, murmelte ein junger Franzose zu seiner Freundin. Beide kicherten.
In Ordnung, keine Panik, dachte Reid.
Anscheinend kannst du Arabisch und Französisch. Die einzige andere Sprache die Professor Lawson sprach, war Deutsch und ein paar Sätze auf Spanisch.
Es gab noch etwas anderes, etwas das schwerer zu definieren war. Hinter seinen rasselnden Nerven und dem Instinkt zu rennen, nach Hause zu gehen, sich irgendwo zu verstecken, hinter all dem gab es einen kalten, stählernen Rückhalt. Es war, als hätte er die schwere Hand eines älteren Bruders auf seiner Schulter, eine Stimme in seinem Hinterkopf, die zu ihm sagte: Entspanne dich. Du weißt das alles.
Während die Stimme in seinem Hinterkopf ihn leise führte, standen seine Mädchen und ihre Sicherheit im Vordergrund. Wo waren sie? Woran haben sie gerade gedacht? Was würde es für sie bedeuten, würden sie beide Eltern verlieren?
Er hatte nicht einen Moment aufgehört, an sie zu denken. Selbst als er in dem dreckigen Kellergefängnis geschlagen wurde, während diese Visionen in seine Gedanken eindrangen, hatte er immer an die Mädchen gedacht – und ganz besonders an die letzte Frage. Was würde mit ihnen geschehen, wäre er dort in diesem Keller gestorben? Oder sollte er sterben, während er diese tollkühne Sache tat, die er nun vorhatte?
Er musste sich versichern. Irgendwie musste er Kontakt aufnehmen. Aber zuerst brauchte er eine Jacke und das nicht nur, um sein blutbeflecktes Hemd zu verstecken. Das Februarwetter brachte es zu fast zehn Grad Celsius, war aber definitiv noch zu kalt, um nur in einem Hemd herumzulaufen. Der Boulevard bildete einen Windkanal und die Brise war steif. Er ging ins nächste Kleidergeschäft und wählte den ersten Mantel, der ihm ins Auge fiel – eine dunkelbraune Bomberjacke, Leder mit Fleece gefüttert. Seltsam, dachte er. Nie zuvor hätte er sich eine solche Jacke ausgesucht, er stand mehr auf Tweed und karierte Mode, aber er fühlte sich dazu hingezogen.
Die Bomberjacke kostete zweihundertvierzig Euro. Egal; er hatte eine Tasche voller Geld. Er suchte sich auch noch ein neues Shirt aus, ein schiefergraues T-Shirt und dann eine neue Jeans, neue Socken und robuste braune Stiefel. Er brachte alle Artikel zur Kasse und bezahlte in bar.
Auf einem der Geldscheine befand sich ein Fingerabdruck aus Blut. Der dünnlippige Verkäufer tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Ein blitzartiger Gedanke –
Ein Typ betritt blutüberströmt eine Tankstelle. Er bezahlt sein Benzin und will gerade gehen. Der verwirrte Verkäufer ruft: „Hey, Mann, geht es dir gut?“ Der Typ lächelt. „Oh ja, mir geht es gut. Es ist nicht mein Blut.“
Ich habe diesen Witz noch nie zuvor gehört.
„Darf ich bitte Ihre Umkleidekabine benutzen?“, fragte Reid auf Französisch.
Der Verkäufer deutete auf die Kabinen im hinteren Teil des Geschäfts. Während der gesamten Transaktion hatte er kein einziges Wort gesagt.
Bevor er sich umzog, betrachtete sich Reid zum ersten Mal in einem sauberen Spiegel. Gott, er sah wirklich schrecklich aus. Sein rechtes Auge war stark angeschwollen und es zeigten sich Blutflecken auf den Verbänden. Er musste eine Apotheke finden, um ein paar gute Erste-Hilfe-Sachen zu kaufen. Er ließ seine schmutzige und leicht blutverschmierte Jeans über seinen verletzten Oberschenkel hinuntergleiten und zuckte dabei zusammen. Etwas fiel auf den Boden und erschreckte ihn. Die Beretta. Er hatte fast vergessen, dass er sie hatte.
Die Pistole war schwerer, als er gedacht hätte. Neunhundertfünfundvierzig Gramm, ungeladen, er wusste das. Sie zu halten war, wie eine verflossene Geliebte zu umarmen, vertraut und fremd gleichzeitig. Er legte die Waffe hin und zog sich weiter um, stopfte seine alten Sachen in die Einkaufstüte und steckte dann die Pistole in den Hosenbund seiner neuen Jeans, an seinem Rücken.
Auf dem Boulevard hielt Reid den Kopf gesenkt und lief zügig den Bürgersteig entlang. Er brauchte nicht noch mehr Visionen, die ihn jetzt ablenkten. Er warf die Tüte mit der alten Kleidung in einen Mülleimer an der Ecke, ohne dafür auch nur anzuhalten.
„Oh! Excusez-moi“, entschuldigte er sich, als er mit seiner Schulter eine vorbeilaufende Frau in einem Businessanzug anrempelte. Sie funkelte ihn an. „Es tut mir leid.“ Sie schnaubte und ging weiter. Er steckte seine Hände in die Jackentaschen – gemeinsam mit dem Handy, welches er gerade aus ihrer Handtasche geklaut hatte.
Es war einfach gewesen. Zu einfach.
Zwei Häuserblocks entfernt stellte er sich unter die Markise eines Kaufhauses und zog das Telefon heraus. Er atmete erleichtert auf – er hatte die Geschäftsfrau aus einem bestimmten Grund ausgesucht und sein Instinkt hatte sich bestätigt. Sie hatte Skype auf ihrem Handy installiert, mit einem Konto, das zu einer amerikanischen Nummer gehörte. Er öffnete den Internetbrowser des Handys, suchte die Nummer von Pap’s Feinkostladen in der Bronx und wählte sie.
Eine junge männliche Stimme antwortete sofort. „Pap’s, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ronnie?“ Einer seiner Schüler aus dem Vorjahr arbeitete Teilzeit in Reids Lieblings-Feinkostladen. „Hier ist Professor Lawson.“
„Hallo, Professor!“, sagte der junge Mann fröhlich. „Wie geht es Ihnen? Möchten Sie eine Bestellung zum Abholen aufgeben?“
„Nein. Ja … so ungefähr. Hören Sie zu, ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten, Ronnie.“ Pap’s Feinkostladen war nur sechs Häuserblocks von seinem Haus entfernt. An schönen Tagen ging er oft zu Fuß dorthin, um belegte Brötchen zu kaufen. „Haben Sie Skype auf Ihrem Handy?“
„Ja?“, sagte Ronnie mit einem verwirrten Klang in seiner Stimme.
„Sehr gut. Hier ist, worum ich Sie bitten möchte. Schreiben Sie diese Nummer auf …“ Er wies den Schüler an, schnell zu seinem Haus zu laufen, um zu sehen wer, wenn überhaupt irgendwer, dort war und ihn dann auf dieser amerikanischen Nummer zurückzurufen.
„Professor, stecken Sie in irgendwelchen Schwierigkeiten?“
„Nein, Ronnie, mir geht es gut“, log er. „Ich habe mein Handy verloren und eine nette Frau lässt mich ihres benutzen, damit ich meine Kinder wissen lassen kann, dass es mir gut geht. Aber ich habe nur ein paar Minuten Zeit. Wenn Sie also bitte …“
„Sagen Sie nichts mehr, Professor. Ich bin froh, wenn ich helfen kann. Ich rufe Sie in ein paar Minuten zurück.“ Ronnie legte auf.
Während er wartete, ging Reid nervös unter der kurzen Länge der Markise auf und ab und sah alle paar Sekunden auf das Telefon, für den Fall, dass er den Anruf verpasste. Es fühlte sich so an, als würde eine ganze Stunde verstreichen, bevor es klingelte, obwohl es nur sechs Minuten gewesen waren.
„Hallo?“, er beantwortete den Skype Anruf beim ersten Klingeln. „Ronnie?“
„Reid, bist du das?“, fragte eine verzweifelte, weibliche Stimme.
„Linda!“, sagte Reid atemlos. „Ich bin so froh, dass du da bist. Höre zu, ich muss wissen –“
„Reid, was ist passiert? Wo bist du?“, wollte sie wissen.
„Die Mädchen, sind sie bei –“
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