Er löste die Verbände, die er schnellstmöglich in der Wohnung in seinem Gesicht befestigt hatte und wusch das verkrustete Blut von seinen Wunden. Er benutzte die Pflasterzugverbände für die kleineren Schnitte. Für die tieferen Wunden, die normalerweise genäht werden müssten, presste er die Ränder der Haut zusammen und drückte etwas Sekundenkleber darauf, während er die Zähne fest zusammenbiss. Dann hielt er für ungefähr dreißig Sekunden den Atem an. Der Kleber brannte sehr, aber er trocknete schnell. Zum Schluss verteilte er Make-up auf den Konturen seines Gesichts, besonders auf den Verletzungen, die seine ehemaligen sadistischen Entführer verursacht hatten. Es gab keine Möglichkeit sein geschwollenes Auge und den angeschlagenen Kiefer völlig zu verstecken, aber wenigstens würden ihn so weniger Menschen auf der Straße anstarren.
Der gesamte Prozess dauerte etwa eine halbe Stunde und in dieser Zeit klopften zweimal andere Leuten an die Toilettentür (das zweite Mal schrie eine Frau auf Französisch, dass sich ihr Kind fast in die Hose machte). Beide Male rief Reid nur zurück: „Occupé!“
Als er endlich fertig war, betrachtete er sich selbst im Spiegel. Es war alles andere als perfekt, aber zumindest sah er nicht mehr so aus, als wäre er in einer unterirdischen Folterkammer geschlagen worden. Er fragte sich, ob er dunkleres Make-up hätte kaufen sollen, einen Ton, der ihn ausländischer aussehen ließ. Wusste der Anrufer, wen er treffen sollte? Würde er erkennen, wer er war – oder, ob er der war, für den sie ihn hielten? Die drei Männer, die zu seinem Haus gekommen waren, schienen sich nicht so sicher gewesen zu sein; sie hatten ihn mit einem Foto abgleichen müssen.
„Was mache ich denn?“, fragte er sich selbst. Du bereitest dich auf ein Treffen mit einem gefährlichen Verbrecher vor, der höchstwahrscheinlich ein bekannter Terrorist ist, sagte die Stimme in seinem Kopf – nicht die neue aufdringliche Stimme, sondern seine eigene, Reid Lawsons Stimme. Es war sein eigener gesunder Menschenverstand, der ihn verspottete.
Dann meldete sich die souveräne, selbstbewusste Persönlichkeit, die unter der Oberfläche verborgen lag, zu Wort. Alles wird gut, sagte sie zu ihm. Nichts, was du nicht schon einmal getan hättest. Seine Hand griff instinktiv nach dem Griff der Beretta, die an seiner Rückseite unter seiner neuen Jacke verborgen war. Du weißt all das.
Bevor er die Drogerie verließ, kaufte er noch ein paar andere Sachen: eine billige Uhr, eine Flasche Wasser und zwei Schokoriegel. Draußen auf dem Bürgersteig verschlang er beide Schokoriegel. Er war sich nicht sicher, wie viel Blut er verloren hatte und er wollte seinen Blutzuckerspiegel stabil halten. Er lehrte die ganze Wasserflasche und fragte dann einen Passanten nach der Uhrzeit. Er stellte die Uhr und legte sie an sein Handgelenk.
Es war halb sieben. Er hatte ausreichend Zeit, frühzeitig zum Treffpunkt zu gehen und sich vorzubereiten.
*
Es war schon fast dunkel, als er die Adresse erreichte, die ihm am Telefon gegeben worden war. Der Sonnenuntergang in Paris warf lange Schatten über den Boulevard. Rue de Stalingrad 187 war eine Bar im zehnten Pariser Stadtbezirk, die sich Féline nannte. Die Bar war heruntergekommen, mit übermalten Fenstern und eingerissener Fassade. Sie befand sich in einer Straße, in der es sonst nur Kunstateliers, indische Restaurants und unkonventionelle Cafés gab.
Reid hielt kurz inne, eine Hand bereits an der Tür. Wenn er eintrat, gäbe es kein Zurück mehr. Er konnte immer noch gehen. Nein, entschied er sich, das konnte er nicht. Wohin würde er gehen? Nach Hause, damit sie ihn wiederfinden würden? Und mit diesen seltsamen Visionen in seinem Kopf leben?
Er ging hinein.
Die Wände der Bar waren schwarz und rot gestrichen und mit Plakaten aus den fünfziger Jahren übersät, die grimmige Frauen, Zigarettenhalter und Silhouetten zeigten. Es war zu früh oder vielleicht zu spät, als dass dieser Ort voll war. Die wenigen Gäste, die sich hier herumtrieben, Sprachen mit gedämpften Stimmen und beugten sich schützend über ihre Getränke. Melancholischer Blues erklang leise aus einer Stereoanlage hinter der Bar.
Reid scannte die Bar von links nach rechts und wieder zurück. Niemand schaute in seine Richtung und niemand sah wie die Typen aus, die ihn gefangen genommen hatten. Er setzte sich an einen kleinen Tisch im hinteren Teil der Bar mit Blick auf die Tür. Er bestellte einen Kaffee, obwohl der im Grunde nur dampfend vor ihm stand.
Ein buckeliger alter Mann rutschte von seinem Hocker und humpelte in Richtung Toiletten. Reid bemerkte, wie sein Blick auf die Bewegungen des Mannes fiel und den Mann analysierte. Ende sechzig. Hüftdysplasie. Gelbliche Finger, mühsames Atmen – ein Zigarrenraucher. Ohne seinen Kopf zu bewegen, schwenkten seine Augen auf die andere Seite der Bar, wo zwei rau aussehende Männer in Overalls eine gedämpfte, aber leidenschaftliche Unterhaltung über Sport führten. Fabrikarbeiter. Der auf der linken Seite schlief nicht genug, wahrscheinlich der Vater junger Kinder. Der Mann auf der rechten Seite war vor kurzem in eine Schlägerei verwickelt gewesen oder hatte zumindest irgendetwas geboxt; seine Fingerknöchel waren verletzt. Ohne darüber nachzudenken, analysierte er die Manschetten ihrer Hosen, ihrer Ärmel und die Art, wie sie ihre Ellbogen auf den Tisch stützten. Jemand, der eine Waffe hätte, würde sie beschützen, versuchen sie zu verbergen, sogar unbewusst.
Reid schüttelte seinen Kopf. Er wurde langsam paranoid und diese hartnäckigen fremdartigen Gedanken halfen ihm nicht gerade. Aber dann erinnerte er sich an das seltsame Vorkommnis mit der Apotheke, an seine Erinnerung, wo sie sich befand, nur weil er gedacht hatte, er müsse eine finden. Der Akademiker in ihm meldete sich zu Wort. Vielleicht gab es hier etwas für ihn zu lernen. Vielleicht solltest du, anstatt zu versuchen es zu bekämpfen, dich diesen Gedanken öffnen.
Die Kellnerin war eine junge, müde aussehende Frau mit einer verknoteten brünetten Mähne. „Stylo?“, fragte er, als sie an ihm vorbeiging. „Ou crayon?“ Kugelschreiber oder Bleistift? Sie griff in das Gewirr ihrer Haare und zog einen Kugelschreiber heraus. „Merci.“
Er strich eine Cocktailservierte glatt und setzte den Kugelschreiber auf. Dies war keine neue Fähigkeit, die er nie gelernt hatte, sondern eine Professor-Lawson-Taktik, die er in der Vergangenheit viele Male benutzt hatte, um sich an Dinge zu erinnern und sein Gedächtnis zu stärken.
Er dachte an die Unterhaltungen, wenn man sie so nennen konnte, mit den drei arabischen Entführern zurück. Er versuchte, nicht an ihre toten Augen zu denken oder an das Blut auf dem Fußboden oder an das Tablett mit den scharfen Werkzeugen, die dazu gedacht gewesen waren, jegliche Wahrheit, die er in sich hatte, aus ihm herauszuschneiden. Stattdessen konzentrierte er sich auf die gesprochenen Details und schrieb den ersten Namen auf, der ihm in den Sinn kam.
Dann murmelte er ihn laut. „Scheich Mustafar.“
Ein marokkanisches Geheimgefängnis. Ein Mann, der sein ganzes Leben mit Reichtum und Macht gelebt hatte, der die weniger Begünstigten mit Füßen getreten hatte, sie unter seinen Schuhen zerquetscht hatte – hatte jetzt eine Scheißangst, weil er wusste, dass du ihn bis zum Hals im Sand eingegraben könntest und niemand je seine Knochen finden würde.
„Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß!“, beharrt er.
Tut-tut. „Ich habe andere Informationen. Die besagen, Sie wissen verdammt viel mehr, aber Sie haben wahrscheinlich Angst vor den falschen Leuten. Ich sage Ihnen was, Scheich … mein Freund im Nebenzimmer? Er wird ungeduldig. Sehen Sie, er hat diesen Hammer – es ist nur so ein kleines Ding, ein Steinhammer, wie ihn die Geologen benutzen? Aber er funktioniert wunderbar für kleine Knochen, Knöchel ...“
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