1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Wir reden nicht. Niemals.
Es lief Reid kalt den Rücken hinunter, während er Schwierigkeiten hatte, den Anschein geistiger Zurechnungsfähigkeit zu bewahren.
„Reden Sie“, drängte ihn der Vernehmer.
„Ich weiß es nicht.“ Die Worte fühlten sich seltsam an, als sie von seiner geschwollenen Zunge rollten. Alarmiert schaute er auf und sah, wie der andere Mann ihn angrinste.
Er hatte die Aufforderung in der fremden Sprache verstanden … und in tadellosem Arabisch geantwortet.
Der Vernehmer drückte die Spitze des Messers in Reids Bein. Er schrie auf, als das Messer den Muskel seines Oberschenkels penetrierte. Instinktiv versuchte er, sein Bein wegzuziehen, aber seine Fußgelenke waren an die Stuhlbeine gebunden.
Er biss fest seine Zähne zusammen, sein Kiefer schmerzte protestierend. Die Wunde in seinem Bein brannte heiß.
Der Vernehmer grinste und neigte seinen Kopf leicht zur Seite. „Ich muss zugeben, Sie sind ein härterer Brocken, als die meisten, Null“, sagte er auf Englisch. „Schade für Sie, aber ich bin ein Profi.“ Er griff nach unten und zog langsam eine von Reids dreckigen Socken aus. „Ich muss diese Taktik nicht sehr oft anwenden.“ Er setzte sich auf und starrte Reid direkt in die Augen. „Hier ist, was als Nächstes passieren wird: ich werde kleine Teile von Ihnen abschneiden und Ihnen jedes Stück zeigen. Wir fangen mit ihren Zehen an. Dann die Finger. Danach … werden wir sehen, wie es aussieht.“ Der Vernehmer kniete sich hin und presste das Messer gegen den kleinen Zeh seines rechten Fußes.
„Warten Sie“, bettelte Reid. „Bitte warten Sie einfach.“
Die anderen beiden Männer im Raum kamen näher und sahen ihn interessiert an.
Verzweifelt fingerte Reid an den Seilen, die seine Handgelenke fesselten. Es war ein eingebetteter Knoten mit zwei gegenüberliegenden Schlaufen, die mit halben Anschlägen verbunden waren …
Ein intensiver Schauer breitete sich vom Ende seiner Wirbelsäule hinauf in seine Schultern aus. Irgendwie wusste er es einfach. Er hatte das intensive Gefühl eines Déjà-vus, als wäre er schon einmal in dieser Situation gewesen – oder besser gesagt, diese wahnsinnigen Visionen, die irgendwie in seinem Kopf eingepflanzt waren, ließen ihn wissen, dass es so war.
Aber am wichtigsten war, dass er wusste, was er tun musste.
„Ich werde es Ihnen sagen!“, keuchte Reid. „Ich sage Ihnen, was auch immer Sie wissen wollen.“
Der Vernehmer sah auf. „Ja? Gut. Aber zuerst werde ich trotzdem diesen Zeh abschneiden. Ich möchte ja nicht, dass Sie glauben, ich hätte geblufft.“
Hinter seinem Rücken griff Reid seinen linken Daumen mit der anderen Hand. Er hielt den Atem an und zog ruckartig daran. Er fühlte, wie der Daumen aus dem Gelenk sprang. Er wartete auf den scharfen, intensiven Schmerz, aber es war kaum mehr als ein dumpfes Pochen.
Eine neue Erkenntnis überkam ihn – dies war nicht das erste Mal, dass ihm so etwas passiert war.
Der Vernehmer schnitt in die Haut seines Zehs und er schrie laut auf. Mit seinem Daumen entgegengesetzt des normalen Winkels konnte er seine Hand aus den Fesseln befreien. Als die eine Schlaufe offen war, gab auch die andere nach.
Seine Hände waren frei. Aber er hatte keine Ahnung, was er mit ihnen machen sollte.
Der Vernehmer sah auf und runzelte verwirrt die Stirn. „Was …?“
Noch bevor er ein weiteres Wort sprechen konnte, schoss Reids rechte Hand vor und griff nach dem nahegelegensten Werkzeug – einem Präzisionsmesser mit schwarzem Griff. Als der Vernehmer versuchte aufzustehen, zog Reid seine Hand zurück. Die Klinge fuhr über die Halsschlagader des Mannes.
Beide Hände flogen an seine Kehle. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, als der Vernehmer mit weit aufgerissenen Augen zu Boden sank.
Der massige Brutalo brüllte vor Wut und sprang nach vorne. Er griff mit seinen fleischigen Händen nach Reids Hals und drückte zu. Reid versuchte nachzudenken, aber die Angst packte ihn.
Im nächsten Moment hob er das Präzisionsmesser wieder hoch und stach dem Brutalo in die Innenseite seines Handgelenks. Während er es hineindrückte, drehte er seine Schulter und schnitt den Unterarm des Mannes der Länge nach auf. Der Brutalo schrie und fiel zu Boden, während er seine schwere Verletzung umklammerte.
Der große, dünne Mann starrte ungläubig. Wie bereits zuvor auf der Straße, vor Reids Haus, schien er zu zögern, sich ihm anzunähern. Stattdessen tastete er nach dem Plastiktablett und einer Waffe. Er griff nach einer gebogenen Klinge und versuchte in Reids Brust zu stechen.
Reid warf sein gesamtes Körpergewicht nach hinten, kippte dabei mit dem Stuhl um und entging nur knapp dem Messer. Im selben Moment zwang er seine Beine, soweit er konnte, nach außen. Als der Stuhl auf dem Betonboden aufschlug, lösten sich die Stuhlbeine vom Rahmen. Reid stand auf und wäre fast gestolpert, weil seine Beine so schwach waren.
Der großgewachsene Mann schrie auf Arabisch um Hilfe und fuchtelte wahllos mit dem Messer in der Luft herum, um Reid in Schach zu halten. Reid hielt Abstand und beobachtete, wie die silberne Klinge hypnotisch hin- und herschwang. Der Mann schwankte nach rechts und Reid stürzte sich auf ihn, wobei er den Arm – und das Messer – zwischen ihren Körpern einklemmte. Sein Schwung schob sie vorwärts und als der Iraner stürzte, drehte sich Reid und schlitzte dabei gekonnt die Oberschenkelarterie auf der Rückseite seines Beines auf. Er kam auf die Beine und schleuderte das Messer in die entgegengesetzte Richtung, wobei er die Halsschlagader des Mannes durchbohrte.
Er wusste nicht genau, wieso er das wusste, aber ihm war klar, dass der Mann noch siebenundvierzig Sekunden zu leben hatte.
Fußtritte waren auf einer Treppe in der Nähe zu hören. Mit zitternden Fingern stürzte Reid zur offenen Tür und drückte sich daneben flach an die Wand. Das Erste, was durch die Türöffnung kam, war eine Waffe – er erkannte sie sofort als eine Beretta 92 FS – dann folgte ein Arm und schließlich ein Torso. Reid wirbelte herum, packte die Waffe mit seiner Armbeuge und schob das Präzisionsmesser seitlich zwischen zwei Rippen. Die Klinge durchbohrte das Herz des Mannes. Ein Schrei entwich seinen Lippen, als er zu Boden glitt.
Dann gab es nur noch Stille.
Reid taumelte rückwärts. Seine Atmung war flach.
„Oh Gott“, stieß er hervor. „Oh Gott.“
Er hatte gerade innerhalb von wenigen Sekunden vier Männer getötet – nein ermordet. Was noch schlimmer war, war, dass es reflexartig passiert war, so wie Fahrradfahren. Oder plötzlich Arabisch zu sprechen. Oder das Schicksal des Scheichs zu kennen.
Er war ein Professor. Er hatte Erinnerungen. Er hatte Kinder. Eine Karriere. Aber sein Körper wusste ganz offensichtlich, wie man kämpfte, auch wenn er selbst es nicht wusste. Er wusste, wie er sich aus Fesseln befreien konnte. Er wusste, wo ein tödlicher Schlag landen musste.
„Was passiert mit mir?“, keuchte er.
Er bedeckte kurz seine Augen, als ihn eine Welle der Übelkeit überkam. Blut klebte an seinen Händen – buchstäblich. Blut war auf seinem Hemd. Als das Adrenalin nachließ, wurden seine Gliedmaßen von Schmerzen durchdrungen, weil er sich so lange nicht bewegt hatte. Sein Knöchel pochte noch immer von dem Sprung von der Terrasse zu Hause. Er war in sein Bein gestochen worden. Er hatte eine offene Wunde hinter seinem Ohr.
Er wollte nicht einmal darüber nachdenken, wie sein Gesicht aussehen würde.
Verschwinde, schrie sein Gehirn ihn an. Es könnten noch mehr kommen.
„In Ordnung“, sagte Reid laut, als würde er jemandem im Raum zustimmen. Er beruhigte seinen Atem so gut er konnte und scannte seine Umgebung ab. Sein verschwommener Blick fiel auf bestimmte Details – die Beretta. Auf eine rechteckige Beule in der Tasche des Vernehmers. Auf eine seltsame Markierung am Hals des Brutalos.
Читать дальше