Nach einer Stunde völliger Stille räusperte sich Reid: „Ist es noch viel weiter?“, fragte er.
Yuri legte einen Finger auf seine Lippen und grinste dann. „Oui.“
Reids Nasenlöcher weiteten sich, aber er sagte nichts mehr. Er hätte fragen sollen, wie weit die Fahrt sein würde; soweit er es beurteilen konnte, waren sie auf dem direkten Weg nach Belgien.
Die Autobahn A4 wurde zur A34, welche wiederum zur A304 wurde, als sie immer weiter nördlich fuhren. Die Bäume, die in der pastoralen Landschaft verteilt standen, vermehrten sich und kamen näher. Breite schirmartige Nadelbäume, die die offenen Ackerflächen einrahmten und schließlich zu ununterscheidbaren Wäldern wurden. Die Steigung der Straße nahm zu, als die rollenden Hügel zu kleinen Bergen wurden. Er kannte diesen Ort. Oder besser, er kannte diese Region und das nicht nur wegen einer aufblitzenden Vision oder implantierten Erinnerungen. Er war noch nie hier gewesen, aber er wusste aus seinem Studium, dass sie die Ardennen erreicht hatten, einen gebirgigen Waldstreifen, der sich zwischen dem Nordosten Frankreichs, Süd Belgien und dem Norden Luxemburgs erstreckte. In 1944 hatte die deutsche Armee versucht, ihre Panzerdivisionen durch die dichtbewachsene Region zu leiten, um die Stadt Antwerpen einzunehmen. Dies wurde von amerikanischen und britischen Truppen in der Nähe des Flusses Maas vereitelt. Der nachfolgende Kampf wurde die Ardennenoffensive genannt und war die letzte große Offensive der Deutschen im Zweiten Weltkrieg gewesen.
Irgendwie fand er, trotz der fürchterlichen Situation, in der er sich befand oder bald befinden würde, ein wenig Trost beim Nachdenken über die Geschichte, sein früheres Leben und seine Studenten. Aber dann wanderten seine Gedanken wieder zu seinen Mädchen, die verängstigt und allein waren und nicht wussten, wo er war oder in was er hineingeraten war.
Tatsächlich sah Reid schon bald ein Straßenschild, welches die Annäherung an die Grenze anzeigte. Auf dem Schild stand Belgique und darunter Belgien, België, Belgium. Keine drei Kilometer später hielt der Geländewagen an einem einzelnen Grenzposten mit einer Betonmarkise an. Ein Mann mit dickem Mantel und gestrickter Wollmütze sah hinaus auf das Fahrzeug. Grenzsicherheit zwischen Frankreich und Belgien war nicht vergleichbar mit dem, was die meisten Amerikaner gewohnt waren. Der Fahrer öffnete das Fenster und sprach mit dem Mann, aber man konnte die Worte durch die geschlossene Trennwand und Fenster nicht hören. Reid blinzelte durch die getönte Scheibe und sah, wie der Arm des Fahrers dem Grenzoffizier etwas reichte – einen Geldschein. Eine Bestechung.
Der Mann mit der Wollmütze winkte sie durch.
Nach ein paar mehr Kilometern auf der N5 verließ der Geländewagen die Autobahn und fuhr auf eine schmale Straße, die parallel zur Hauptverkehrsstraße lag. Es gab kein Ausfahrtschild und die Straße selbst war kaum asphaltiert; es handelte sich um eine Zufahrtsstraße, höchstwahrscheinlich für Holzabfuhrfahrzeuge gemacht. Der Wagen wurde wegen der tiefen Furchen der Strecke ordentlich durchgerüttelt. Gegenüber von Reid stießen die beiden Schlägertypen aneinander, aber sie starrten ihn weiterhin die ganze Zeit an.
Er sah auf seine billige Uhr, die er in der Apotheke gekauft hatte. Sie waren seit 2 Stunden und 46 Minuten unterwegs. Gestern Abend war er noch in den USA gewesen, war dann in Paris aufgewacht und nun befand er sich in Belgien. Entspann dich, sagte sein Unterbewusstsein wieder. Kein Ort, an dem du nicht schon gewesen wärst. Pass einfach auf und halte deinen Mund.
Auf beiden Seiten der Straße konnte man nichts anderes als dichten Baumbewuchs sehen. Der Geländewagen fuhr weiter die gewundene Straße eines Berges hinauf und dann wieder hinunter. Reid schaute die ganze Zeit über zum Fenster hinaus und tat so, als wäre er unbeschäftigt, aber er suchte nach irgendeiner Art Wahrzeichen oder einem Hinweis, die ihm verraten würden, wo sie sich befanden – idealerweise etwas, das er später den Behörden erzählen konnte, wenn es sein musste.
Vor ihnen erschienen Lichter, aber er konnte aus seinem Blickwinkel die Herkunft nicht erkennen. Der Geländewagen wurde langsamer und kam zu einem sanften Halt. Reid sah einen schwarzen schmiedeeisernen Zaun, jeder seiner Pfosten war mit einer gefährlichen Spitze gekrönt und erstreckte sich zu beiden Seiten, soweit das Auge reichte in die Dunkelheit. Neben ihrem Fahrzeug befand sich ein kleines Wachhaus aus Glas und dunklen Ziegelsteinen mit einem fluoreszierenden Licht darin. Ein Mann tauchte auf. Er trug Hosen und einen Wollmantel mit aufgestelltem Kragen und einem grauen Schal um den Hals. Er versuchte nicht einmal die schallgedämpfte MP7, die an einem Riemen über seiner rechten Schulter hing, zu verstecken. Genau genommen griff er nach der Maschinenpistole, als er auf das Auto zuging, aber er hob sie nicht.
Heckler & Koch, Modellvariante MP7A1, sagte die Stimme in Reids Kopf. Achtzehn-Zentimeter Schalldämpfer. Elcan Reflexvisier. Dreißig-Schuss-Magazin.
Der Fahrer öffnete sein Fenster und sprach für ein paar Sekunden mit dem Mann. Dann ging der Wächter um den Geländewagen herum und öffnete die Tür auf Yuris Seite. Er beugte sich hinunter und sah hinein. Reid konnte den Geruch von Roggenwhisky riechen und spürte einen eisigen Luftzug, der mit ihm von draußen hineinkam. Der Mann sah jeden von ihnen an, sein Blick blieb schließlich auf Reid hängen.
„Kommunicator“, sagte Yuri. „Chtoby uvidet’ nachal’nika.“ Russisch. Nachrichtenüberbringer, der den Boss sehen will.
Der Wachmann sagte nichts. Er schloss die Tür und kehrte auf seinen Posten zurück, von wo aus er einen Knopf auf einer kleinen Konsole drückte. Das schwarze Eisentor summte, als es sich seitlich öffnete und der Geländewagen fuhr hindurch.
Reids Kehle verengte sich, als ihm das volle Ausmaß seiner Situation klar wurde. Er war zu dem Treffen mit der Absicht gegangen, Informationen darüber, was vor sich ging, zu erhalten – nicht nur mit ihm, sondern auch mit all dem Gerede über Pläne und Scheichs und fremde Städte. Er war auf seiner Suche nach einer Quelle mit Yuri und den zwei Schlägertypen ins Auto gestiegen. Er hatte ihnen erlaubt, ihn aus dem Land und mitten hinein in eine dicht bewaldete Region zu bringen und nun befanden sie sich hinter einem hohen, bewachten Tor mit Eisenspitzen. Er hatte keine Ahnung, wie er hier herauskommen sollte, wenn irgendetwas schiefging.
Entspann dich. Du hast so etwas schon mal gemacht.
Nein, das habe ich nicht!, dachte er verzweifelt. Ich bin ein Universitätsprofessor aus New York. Ich weiß nicht, was ich tue. Warum habe ich das gemacht? Meine Mädchen …
Gib einfach nach. Du wirst wissen, was zu tun ist.
Reid atmete tief durch, aber es half nicht seine Nerven zu beruhigen. Er spähte aus dem Fenster. In der Dunkelheit konnte er die Umgebung kaum erkennen. Hinter dem Tor gab es keine Bäume, sondern reihenweise stämmige Reben, die sich durch hüfthohe Gitterwerke wanden und rankten … es war ein Weingut. Ob es wirklich ein Weingut war oder nur die Fassade, darüber war er sich nicht sicher, aber es war zumindest etwas Erkennbares, etwas, das man von einem Hubschrauber oder einer Drohne aus sehen konnte, wenn man darüber flog.
Gut. Das wird später nützlich sein.
Wenn es ein später gibt.
Der Geländewagen fuhr für einen weiteren Kilometer langsam über die Schotterstraße, bis der Weinanbau endete. Vor ihnen lag ein palastartiges Anwesen, quasi ein Schloss, aus grauem Stein mit gewölbten Fenstern und Efeu, der die Südfassade hinauf rankte. Für den Bruchteil einer Sekunde wusste Reid die Schönheit der Architektur zu schätzen; das Schloss war wahrscheinlich zweihundert Jahre alt, vielleicht sogar noch älter. Aber auch hier hielten sie nicht an; stattdessen fuhr das Auto um das Anwesen herum und dahinter weiter. Nach einem weiteren knappen Kilometer erreichten sie ein kleines Grundstück und der Fahrer schaltete den Motor aus.
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