„Das stimmt“, stammelte Emily, während sie die Papiere entgegennahm.
Sie warf einen Blick auf die verblasste Zeichnung. Es waren die Pläne des Architekten. Sie schnappte nach Luft, als sie erkannte, dass die Pläne das gesamte Grundstück umfassten, inklusive des Schwimmbads im Außengebäude, demjenigen, in dem Charlotte ertrunken war. In Emilys Hals formte sich ein Knoten. Schnell faltete sie das Papier und steckte es in ihre Tasche.
„Vielen Dank, Trevor“, sagte sie. „Ich werde mir die Papiere später anschauen.“
Dann trennten sie sich und Emily trat wieder zu Daniel und Chantelle.
„Was wollte Trevor?“, fragte Daniel.
„Gar nichts“, erwiderte Emily mit einem Kopfschütteln. Sie war noch nicht bereit, darüber zu reden, das soeben Erlebte setzte ihr immer noch zu. Die Papiere in ihrer Tasche schienen nach ihr zu rufen. Könnten Sie ein weiteres Teil des Puzzles sein, das das Verschwinden ihres Vaters erklärte?
In diesem Moment begann der Countdown bis zum Entzünden. In Emilys Kopf schwirrten Erinnerungen an dieses Ereignis herum, das sie sich als Kind, im Grundschulalter und als Jugendliche angesehen hatte. Sie schien all diese vergessenen Erinnerungen zu durchleben, Jahr für Jahr. In manchen von ihnen kam eine lebende und lächelnde Charlotte vor, doch nur in den wenigsten. In den meisten gab es nur sie und ihren Vater, der immer tiefer in die Depression verfiel und jedes Mal abgelenkter zu sein schien.
Dann leuchteten die weißen Lichter an dem Baum auf und alle begannen zu jubeln. Mit klopfendem Herzen kehrte Emily in die Gegenwart zurück.
„Geht es dir gut?“, wollte Daniel besorgt wissen. „Du bekommst ständig Blackouts.“
Emily nickte, um ihn zu beruhigen, doch in Wahrheit zitterte sie. Ihre Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe. All diese Erinnerungen tauchten plötzlich wieder auf und sie musste sich unwillkürlich fragen, ob das Wissen, dass ihr Vater noch lebte, wohl der Grund dafür war. Er schien ihr so, als ob ihr Gehirn beschlossen hätte, dass sie nun in die Vergangenheit greifen und sich an ihren Vater erinnern durfte, weil sie jetzt nicht mehr in der Trauer versinken würde. Wenn Emily genug Geduld aufbrachte, dann würde sie sich vielleicht an etwas erinnern, das ihr bei der Suche nach ihm helfen würde und das ihr sagen könnte, wo genau er sich versteckte.
*
Erschöpft von dem schönen Abend brachten Emily und Daniel Chantelle ins Bett, sobald sie zuhause ankamen. Chantelle hatte darum gebeten, dass ihr jemand eine Geschichte vorlas, und Emily war ihrer Bitte nachgekommen. Doch am Ende der Geschichte schien Chantelle nachdenklich zu sein.
„Was ist denn los?“, fragte Emily.
„Ich dachte gerade an Mom“, erwiderte Chantelle.
„Oh.“ In Emilys Magen bildete sich bei dem Gedanken an Sheila in Tennessee ein Knoten. „An was denn genau, Liebes?“
Chantelle sah Emily mit ihren großen, blauen Augen an. „Wirst du mich vor ihr beschützen?“
Emilys Herz zog sich zusammen. „Natürlich.“
„Versprich es mir“, verlangte Chantelle mit verzweifeltem, flehendem Ton. „Versprich mir, dass sie nie wieder zurückkommt.“
Emily zog das Mädchen dicht an sich. Das konnte sie nicht versprechen, denn sie wusste nicht, wie der Rechtsstreit um das Sorgerecht ausgehen würde.
„Ich werde alles tun, was ich kann“, meinte Emily in der Hoffnung, dass ihre Worte ausreichen würden, um das verängstigte Kind zu beruhigen.
Chantelle lehnte sich zurück und legte ihren Kopf auf das Kissen. Dabei breitete sich ihr blondes Haar aus und sie machte einen entspannten Eindruck. Schon ein paar Minuten später war sie eingeschlafen.
Chantelles Bitte bezüglich ihrer Mutter hatte Emily wachgerüttelt. Sie und Patricia hatten sich vor nicht allzu langer Zeit unterhalten, als Emily vergebens versucht hatte, ihre Mutter dazu zu bewegen, Thanksgiving bei ihnen in der Pension zu verbringen. Ihre Mutter hatte sich geweigert zu kommen und das Haus in Sunset Harbor zu besuchen. Sie sah es als Roys Eigentum an, einem Ort, von dem sie verbannt worden war. Doch Emily fand trotzdem, dass Patricia ein Teil ihres Lebens war. Das bedeutete, dass Emily nun in den sauren Apfel beißen und ihr von der bevorstehenden Hochzeit erzählen musste.
Emily stand von Chantelles Bett auf, schlang einen Schal um sich herum und trat dann hinaus auf die Veranda. Dort setzte sie sich auf den Schaukelstuhl, winkelte die Beine unter ihrem Körper an und warf einen letzten Blick zu dem Mond und den Sternen dort oben am Himmel. Etwas in ihrem glänzenden Licht gab ihr den Mut, ihre Kontakte durchzusuchen und die Nummer ihrer Mutter zu wählen.
Wie immer antwortete Patricia mit einem barschen „Ja?“
„Mom“, sagte Emily. Dann holte sie tief Luft, um nicht den Mut zu verlieren. „Ich muss dir etwas sagen.“
Es hatte keinen Sinn, höfliche Konversation vorzutäuschen. Keine von beiden wollte das, weshalb Emily auch gleich zum Punkt kommen konnte.
„Oh?“, erwiderte Patricia nur tonlos.
Emily hatte ihrer Mutter im Laufe des vergangenen Jahres einige unwillkommene Überraschungen geliefert. Zuerst hatte sie ihr Zuhause in New York Hals über Kopf verlassen und sich nach sieben Jahren von Ben getrennt, dann war nach Sunset Harbor davongelaufen, hatte eine Pension eröffnet und sich so sehr in Daniel verliebt, dass sie zugestimmt hatte, ihm dabei zu helfen, sein Kind großzuziehen. Es überraschte Emily nicht, dass ihre Mutter jede einzelne ihrer Entscheidungen missbilligt hatte. Deshalb standen die Chancen schlecht, dass sie die Verlobung ihrer Tochter akzeptieren würde.
„Daniel hat um meine Hand angehalten“, brachte Emily schließlich hervor. „Und ich habe ja gesagt.“
Genau wie von Emily vorhergesehen herrschte Schweigen. Ihre Mutter nutzte das Schweigen wie eine Waffe, mit der sie Emily stets genug Zeit ließ, um sich darum zu sorgen, was ihre Mutter wohl gerade dachte.
„Wie lange genau bist du schon mit diesem Mann zusammen?“, fragte Patricia schließlich.
„Fast ein Jahr“, erwiderte Emily.
„Ein Jahr. Von weiteren fünfzig oder so, die ihr zusammen verbringen wollt.“
Emily seufzte tief auf. „Ich dachte, du würdest dich freuen, dass ich mich endlich mit jemandem niederlasse. Immerhin reibst du mir doch ständig unter die Nase, dass du in meinem Alter schon längst verheiratet warst.“ Emily krümmte sich innerlich beim Klang ihrer eigenen Stimme. Warum schaffte es ihre Mutter auch immer, das streitsüchtige Kind in ihr zu wecken? Warum wollte Emily unbedingt die Zustimmung ihrer Mutter, wenn diese sich so wenig um ihre Tochter kümmerte?
„Ich nehme an, er braucht eine Mutter für sein Kind“, sagte Patricia.
Mit zusammengebissenen Zähnen antwortete Emily: „Ihr Name ist Chantelle. Und deshalb hat er mir keinen Antrag gemacht. Das tat er, weil er mich liebt. Und ich sagte ja, weil ich ihn liebe. Wir wollen für immer zusammenbleiben, du solltet dich also daran gewöhnen.“
„Das werden wir ja sehen“, erwiderte Patricia monoton.
„Ich wünschte, du könntest dich für mich freuen“, meinte Emily mit brüchiger Stimme. „Immerhin wirst du die Mutter der Braut sein. Die Leute werden erwarten, dich stolz und umgänglich zu sehen.“
„Wer sagt denn, dass ich überhaupt komme?“, raunzte Patricia zurück.
Diese Worte waren für Emily wie ein Schlag ins Gesicht. „Was meinst du? Natürlich kommst du, Mom. Es ist schließlich meine Hochzeit!“
„Das ist ganz und gar nicht natürlich“, erwiderte Patricia. „Ich werde auf meine Einladung zur Hochzeit antworten, wenn ich sie erhalte.“
„Mom…“, stammelte Emily.
Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Würde ihre Mutter wirklich nicht kommen, nur, um ihr eines auszuwischen? Was würden die Leute denken? Vielleicht, dass Emily ein Waisenkind war, wenn weder ihr Vater noch ihre Mutter auftauchten. Und auch keine Schwester. Auf gewisse Art war sie eine Waise. Sie kämpfte gegen die ganze Welt an.
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