Es ließe sich die Aussage wagen, dass die Neutralität des Therapeuten wohl eher eine Illusion ist oder im besten Falle eine unmöglich zu erfüllende und dadurch zweifelhafte Forderung.
Das Zusammentragen von Informationen und das Untersuchen des Klienten verlaufen nicht spurlos, sie beinhalten Suggestionen und führen zu Veränderungen bei der Person, die untersucht wird. Die Aktivitäten des Therapeuten, der Informationen zum Klienten sammelt, greifen also in das untersuchte Gebiet ein und verändern es.
Wichtig ist auch die Frage nach der Parallelität von Diagnose- und Therapieprozess unter den eben behandelten Gesichtspunkten der Suggestion. Manche Therapeuten bemühen sich, den Diagnose- vom Therapieprozess zu trennen. Solch ein Konzept würde bedeuten, dass zuerst die Diagnose gestellt und später eine Hypothese aufgestellt und verifiziert wird. Danach wird ein therapeutischer Handlungsplan bestimmt und im nächsten Schritt mit der Therapie begonnen. Dieses Konzept stützt sich auf die Argumentation, dass es schließlich unmöglich sei, eine Behandlung durchzuführen, wenn nicht bekannt ist, was behandelt werden soll.
Eine solche Denkweise ist Ausdruck eines linearen Zeitverständnisses, obwohl ein lineares Zeitverständnis bei Weitem keine Selbstverständlichkeit ist.
Alltägliche klinische Erfahrungswerte zeigen, dass Diagnose- und Therapieprozess parallel verlaufen und miteinander, auch zeitlich, verbunden sind. Die zeitliche Parallelität dieser beiden Prozesse, der Diagnostik und der Therapie, zeigt sich beispielsweise dann, wenn der Therapeut die Reaktionen des Klienten bereits beobachtet, während er noch mit dem Zusammentragen von Informationen beschäftigt ist. Dies schafft die Möglichkeit schneller Interventionen und verkürzt den Behandlungsprozess.
Das in diesem Buch vorgestellte Diagnosekonzept wurde zum Gebrauch der Psychotherapie erstellt. Ziel ist es, dass der Therapeut mithilfe der diagnostischen Reflexion nützliche Hinweise dazu erhält, wie er vorgehen kann, damit diese seine weitere therapeutische Arbeit lenkt.
1.4Die Diagnose in der ericksonschen Therapie
Wie Joseph R. Dunn (2006, p. 56) betont, erinnert der Begriff Diagnose sehr stark an die Beschreibung von Psychopathologie, in deren Rahmen eine bestimmte Krankheit diagnostiziert wird. Das Verständnis für den Klienten beschränkt sich meist darauf, dass er eine statistische Nummer für seine Krankheit erhält, und damit hat sich die Sache oft auch schon erledigt. Als Beispiel nennt der Autor den Umgang mit der Diagnose Depression. Infolge einer solchen Diagnose wird dem Klienten oft nur ein Standardmedikament gegen Depressionen verabreicht. Dabei ist eine medikamentöse Intervention nur einer von vielen Wegen, die zu einer Veränderung führen können. Im Falle einer Depression ist es ebenso wesentlich, Bereiche wie etwa Verhaltenssequenzen, Emotionen, Gedanken, innere Vorstellungen, die Einstellung des Klienten, den sozialen Kontext, interpersonale Beziehungen sowie geistige Aspekte zu erkennen, zu beschreiben und damit zu arbeiten.
Berücksichtigt man die hier dargestellten Überlegungen zur Suggestion und auch, dass der Therapeut seine Aufmerksamkeit im ericksonschen Ansatz eher auf die Chancen statt auf die Defizite, auf das Potenzial statt auf die Symptomatik sowie auf die Zukunft statt auf die Vergangenheit richtet, dann scheint es angebrachter, von »Erkennen« statt von »Diagnose« zu sprechen. Vielleicht kann dieses Wort, das sich ja darauf bezieht, dass etwas »erkannt« wird, die Gesamtheit des Prozesses beim Kennenlernen und Beschreiben des Klienten in der Psychotherapie besser wiedergeben. Außerdem umfasst der Begriff ein breiteres Gebiet, ist neutraler und weniger durch pathologische Aspekte der klinischen Diagnose belastet.
Sowohl Milton H. Erickson (Rossi, Erickson-Klein a. Rossi 2008b) als auch Haley (1985) konzentrierten sich auf Symptome oder bestimmte Verhaltensweisen, die im Zuge der Therapie modifiziert werden sollen und vermieden es, den Klienten mithilfe solch abstrakter Begriffe wie »gestörte Struktur« oder »Persönlichkeitsstörung« zu beschreiben. Erickson und Haley konkretisierten und präzisierten den Bereich der angestrebten Veränderungen, wodurch Kurzzeittherapien möglich wurden und die Behandlungskosten reduziert werden konnten (Zeig i Munion 2005).
Die Gedanken, die ich hier zum Thema Diagnose vorstellen möchte, stammen aus den Arbeiten Ericksons und seiner Schüler, die sein Konzept weiterentwickelten und im Umfeld der Erickson-Institute heute in über 130 Ländern der Erde tätig sind. Ich habe Milton H. Erickson persönlich nie kennengelernt. Zu seinen Lebzeiten hätte eine Reise von Polen nach Phoenix an ein Wunder gegrenzt. Jedoch hatte ich das Glück, vor vielen Jahren guten Lehrern und später guten Freunden zu begegnen, die es mir ermöglichten, mich über längere Zeit hinweg eingehend mit dem ericksonschen Ansatz zu beschäftigen. Dieses Buch bezieht sich größtenteils auf die wissenschaftlichen Arbeiten von Norma und Phil Barretta, Brent B. Geary, Eric Greenleaf, Jay Haley, Betty Alice Erickson, Bernhard Trenkle, Ernest Rossi, Michael Yapko und Jeffrey K. Zeig.
Milton Hyland Erickson (1901–1980) hob immer wieder die Einzigartigkeit eines jeden Individuums hervor:
»Im Alter von 26 Jahren beendete er sein Medizinstudium und wurde im gleichen Jahr auch Master of Arts in Psychologie. (…) Er selbst bezeichnete sich sowohl als Psychologe als auch als Psychiater« (Short, Erickson a. Erickson-Klein 2005, p. xx).
Mehr als fünfzig Jahre lang arbeitete Erickson mit Klienten. Er formulierte keine eindeutigen diagnostischen Kriterien, sondern hob die Eigenschaften einer Person hervor, die für die therapeutische Behandlung von Bedeutung sind. Er berief sich dabei mehr auf praktische therapeutische Erfahrungen als auf Theorien. Seine Herangehensweise gilt als heuristisch und pragmatisch, konzentrierte er sich doch hauptsächlich darauf, Lösungen zu finden, nicht nach Ursachen eines Leidens zu fahnden.
Erickson war der Meinung, dass
»eine Therapie, wenn sie durch theoretische Vorgaben eingeschränkt wird, das Individuum und dessen innere Ressourcen nicht respektiert. So versuchte er, eine einzigartige Therapie für jeden Klienten, in Abhängigkeit von dessen konkreter Situation, zu entwickeln« (Zeig i Munion 2005, s. 51).
Er ordnete Klienten niemals in eine willkürlich übernommene Struktur theoretischer Konstrukte ein. Er formulierte keine eindeutigen diagnostischen Kriterien, um Eigenschaften des Klienten die für die Therapie wichtig sind, festzuhalten. Der hier unternommene Versuch, beim Klienten solche Eigenschaften zu bestimmen, zweifelt dieses Prinzip nicht an, sondern bemüht sich vielmehr, Grundlagen dieser Therapie in zugänglicher Weise zu vermitteln. Darüber hinaus soll hiermit auf die Forderung von Jay Haley und Madeleine Richport-Haley eingegangen werden,
»ein diagnostisches Modell zu entwickeln, das nützliches Werkzeug für den Therapeuten (und nicht für die Verwaltung im Gesundheitssystem) ist, sodass Therapeuten praktische und gut verständliche Anweisungen nutzen können, die zu erfolgreichen Aktivitäten führen« (Haley a. Richport-Haley 2003, p. 6).
Die ericksonsche Therapie ist ein strategisches Konzept, bei dem die angestrebte Therapierichtung alle weiteren Arbeitsschritte vorgibt. Die Diagnose dient dazu, eine Strategie für Veränderungen aufzubauen, und wird eher mit einem bestimmten Ziel als aus einem bestimmten Grund gestellt. Der Therapeut wählt den Bereich aus, in dem er die Diagnose stellt und den Klienten beschreibt. Als Ziel einer solchen Strategie soll nicht etwa eine objektive Wahrheit festgelegt werden, vielmehr sollen mehrere mögliche Bereiche für ein gesundheitsförderliches Zusammenwirken gefunden werden, sodass der Klient, bewusst oder unbewusst, einen dieser Bereiche für die Zusammenarbeit auswählen kann.
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