Neben Organisationen wie UbuWeb gibt es noch eine umtriebige Vielzahl von Blogs wie The Sound of Eye, BibliOdyssey, 45cat und Found Objects, die von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen Gleichgesinnter betrieben werden; Amateur-Kuratoren, die frenetisch alle Formen abseitiger Bilder und Sounds ins Internet stellen: kuriose und verlorene Klassiker von Buchillustrationen, Grafik-Design und Typografien des 20. Jahrhunderts, Avantgarde- und Animationsfilme, eingescannte Artikel und in zunehmendem Maße ganze Ausgaben von obskuren Magazinen und Fanzines, alte Bildungssendungen und die Intros von lange verloren geglaubten Kindersendungen etc. Wenn ich ein zweites Leben führen könnte (bei dem ich mir keine Gedanken über mein Einkommen machen müsste), würde ich mich den ganzen Tag an all diesen Kulturgütern weiden und wäre glücklich dabei.
Im Internet korrelieren Vergangenheit und Gegenwart auf eine Weise, die die Zeit breiig und schwammig werden lässt. YouTube ist die vollkommene Erfüllung des Web 2.0, da es jedem Video, das hochgeladen wird, Unsterblichkeit verspricht: Theoretisch kann der betreffende Inhalt dort für immer bleiben. Man kann mit einem Klick vom Veralteten zum Aktuellsten wechseln. Das Ergebnis ist, kulturell betrachtet, eine paradoxe Mischung aus Geschwindigkeit und Stillstand. Man kann das auf allen Ebenen der Web-2.0-Realität beobachten: Eine unglaublich hohe Fluktuation von Nachrichten, die alle zehn Minuten geupdatet werden, steht der sturen Beharrlichkeit nostalgischen Mists gegenüber. In die Lücke zwischen diesen beiden Polen fällt sowohl die jüngste Vergangenheit als auch das, was man als »verlängerte Gegenwart« bezeichnen könnte: Moden, die Bestand haben, Bands, deren Karrieren länger als ein Album anhalten, Subkulturen und Bewegungen, die gegen Trends und Geschmäcker bestehen. Die jüngste Vergangenheit gleitet in eine amnesische Leere ab, während die verlängerte Gegenwart in ihrer ganzen Bandbreite in Stein gemeißelt wird, einfach aufgrund des unglaublichen Tempos, mit dem die Seiten des Gegenwärtigen und Kursierenden aktualisiert werden.
DER AUSVERKAUF DER GEGENWART
»Popmusik ist heute viel flüchtiger«, sagt der für den Einzelhandel zuständige Billboard-Redakteur Ed Christman. Ich habe Christman kontaktiert, weil ich herausfinden wollte, ob die Konsumenten heutzutage mehr alte Musik kaufen. Er erklärte mir, dass die Industrie bei Veröffentlichungen zwischen »aktuell« (die Zeitspanne vom Erscheinungstermin bis 15 Monate nach VÖ) und »Katalog« (ab dem 16. Monat nach VÖ) unterscheidet. Aber auch der Katalog wird in zwei Kategorien unterteilt: in jene, die noch relativ aktuell ist, und Dinge, die aus den »Tiefen« des Katalogs stammen, wozu Musik drei Jahre nach der Veröffentlichung zählt. Christmans Wahrnehmung war, dass der relativ aktuelle Katalog (Veröffentlichungen, die zwischen 15 Monaten und drei Jahren alt sind) »nicht so gut geht wie früher«. Außerdem sind die Karrieren von Bands kürzer geworden, auf erfolgreiche Debüts folgen Flops, der größte Teil von Bands, die Bestand haben, sind Überbleibsel aus den 60ern, 70ern und 80ern.
Als wir auf mein Hauptinteresse zu sprechen kamen – das relative Verhältnis zwischen dem Verkauf alter Musik und dem Verkauf neuer Musik –, grub Christman ein paar Statistiken aus. Im Jahr 2000, erklärte er, waren 34,4 Prozent aller Albenverkäufe in den USA die Katalogverkäufe (wozu der jüngere und der ältere Katalog gerechnet wurde), während die aktuellen Produktionen bei 65,6 Prozent standen; bis zum Jahr 2008 war der Katalogverkauf auf 41,7 Prozent angestiegen, während die aktuelle Rate bei 58,3 lag. Das scheint keine so dramatische Veränderung zu sein, aber laut Christman ist diese beständige Verschiebung Jahr für Jahr hin zur Backlist während der 2000er sehr bezeichnend. Sie widerspricht einem völlig stabilen Verhältnis von Aktuellem und Katalog, wie es die gesamten 90er über Realität war. Frühere Zahlen liegen nicht vor.
Was diesen Anstieg noch beachtlicher macht, ist der Umstand, dass es für die Konsumenten aufgrund des himmelschreienden Niedergangs des Musikeinzelhandels tatsächlich schwerer geworden war, an nicht-aktuelle Veröffentlichungen zu kommen. »Alle alteingesessenen Plattenläden verfügten über diese Backlist-Sachen, aber viele von ihnen mussten ihr Geschäft aufgeben«, sagte Christman. Diejenigen, die überlebten, waren gezwungen, Non-Music Produkte wie etwa Spiele in ihr Sortiment aufzunehmen, was dazu führte, dass sie das Angebot an Musiktiteln auf Lager drastisch reduzierten. Borders hatte im Jahr 2000 noch 50.000 Titel im Programm, bis 2008 war diese Zahl auf unter 10.000 gesunken, so Christman.
Aber wenn die Masse der Klassiker aus den Plattenläden verschwunden ist, deren Zahl selbst immer weiter abnahm, wirft das eine Frage auf: Wie konnten die Verkäufe alter Musik im letzten Jahrzehnt zunehmen? Teilweise lässt sich das durch den Erfolg von Online-Händlern wie Amazon erklären, die aufgrund günstiger Einkäufe und Lagerhallen große Mengen vorrätig halten können. Es gab auch bestimmte Katalogtitel, die als »heißer Scheiß«, wie Christman es ausdrückt, wieder veröffentlicht wurden: Jubiläumseditionen und Deluxe-Doppel-CDs, die wie Neuerscheinungen aufgemacht und beworben und in den Plattenläden entsprechend ausgestellt wurden. Schließlich gab es noch den Anstieg der digitalen Verkäufe: Die iPod-Explosion erweckte bei vielen Musikfans die erloschene Begeisterung für Musik wieder, da sie zum ersten Mal in der Lage waren, einzelne Tracks anstelle ganzer Alben zu kaufen – einiges davon war alte Musik, ein Katalog-Boom, der mit den CD-Wiederveröffentlichungen klassischer Alben seit Mitte der 80er vergleichbar ist. Christman erklärte, 2009 sei »das erste Jahr gewesen, in dem Soundscan bei ihren digitalen Verkäufen zwischen Katalog und aktuellen unterschied«, was zeigte, dass der Katalog »die Mehrheit der digitalen Track-Verkäufe ausmachte, 64,3 Prozent gegenüber den 35,7 Prozent des Aktuellen«. Ich vermute, dass es einen vergleichbaren Trend zu alter Musik bei illegalen Downloads gibt. Das leuchtet ein: Die Vergangenheit kann gar nicht anders, als die Gegenwart zu übertrumpfen, nicht nur bezüglich der Quantität, sondern auch qualitativ. Nehmen wir einmal an, nur hypothetisch, jedes Jahr würde durchschnittlich gleichviel großartige Musik produziert werden (ohne die Schwankungen in speziellen Genres). Das würde bedeuten, dass die brillante Ernte eines Jahres mit einer immer umfangreicher werdenden Halde, angefüllt mit Großartigkeit, konkurrieren müsste. Wie viele Platten von 2011 sind für einen neuen Hörer so erwerbenswert wie Rubber Soul, Astral Weeks, Closer oder Hatful of Hollow ?
Die Idee des Backkataloges ist zentral für Chris Andersons viel diskutierte und an machen Stellen widersprüchliche Long-Tail-Theorie. Die Argumentation kennen wir aus technologischen Utopien, die im Wired so oft zu lesen waren, wo Andersons Artikel ursprünglich erschienen sind, bevor daraus der Bestseller The Long Tail. Nischenprodukte statt Massenmarkt – Das Geschäft der Zukunft wurde. Er argumentiert, die durch das Internet entstandene Handelsstruktur habe das Verhältnis zugunsten des kleinen Mannes gewendet (der einzelne mutige Unternehmer, die kleinen Independent-Verlage und -Labels, die Nischen-Künstler), im Gegensatz zu den großen Unterhaltungsindustrie-Konglomeraten, die mit ihren riesigen Startverkäufen und teuren Werbekampagnen nur auf Blockbuster und Megastars fixiert sind.
Der faszinierende Subtext der Long-Tail-Theorie zeigt, dass die Landschaft der neuen Medien auch das Gleichgewicht zugunsten der Vergangenheit und zu Ungunsten der kulturellen Gegenwart verschiebt. Gleich am Anfang seines Artikels für Wired im Oktober 2004 berichtet Anderson von Bestseller-Memoiren übers Bergsteigen ( In eisigen Höhen. Das Drama am Mount Everest ), deren Erfolg die Käufer unmittelbar auf ein viel älteres Buch zu dem gleichen Thema von einem anderen Autor ( Sturz ins Leere. Ein Überlebenskampf in den Anden ) aufmerksam gemacht hat – mit Hilfe des »Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch …«-Algorithmus von Amazon und den Empfehlungen anderer Leser. Das Anden-Buch war bis dahin nur mäßig erfolgreich und stand kurz davor, nicht mehr lieferbar zu sein, aber dank In eisigen Höhen wurde es wieder aufgelegt und zum Bestseller. Anderson beschreibt, wie Amazon »das Sturz-ins-Leere -Phänomen durch die Kombination von unendlichem Lagerraum und Echtzeit-Informationen über Verkaufs-Trends und die öffentliche Meinung erzeugt hat«, und charakterisiert die »daraus resultierende Nachfrage für ein obskures Buch« als Sieg der Marginalisierten über den Mainstream, einen der Qualität über den marktführenden Einheitsbrei. Aber wenn Anderson frohlockt, dass »die Verkaufzahlen von Sturz ins Leere mehr als doppelt so hoch sind wie bei In eisigen Höhen «, beschreibt er tatsächlich einen Fall, bei dem die Vergangenheit die (damalige) Gegenwart schlägt – 1988 lässt 1999 alt aussehen.
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