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Sonderzahlungen sind Arbeitgeberleistungen, die nicht regelmäßig, sondern nur zu bestimmten Anlässen oder Terminen gewährt werden.181 Dazu gehören bspw. das Weihnachtsgeld, ein 13. Monatsgehalt, Gewinnbeteiligungen, Prämien für Treue und Anwesenheit oder das Urlaubsgeld. Eine einheitliche Terminologie für Sonderzuwendungen hat sich (noch) nicht flächendeckend durchgesetzt. Nicht selten werden inhaltsgleiche Sondervergütungen unterschiedlich bzw. verschiedene mit derselben Bezeichnung benannt.182
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Zur Klärung der Frage, welche Sonderzahlungen auf den Mindestlohn anzurechnen sind, kommt der durch den Arbeitgeber gewählten Bezeichnung nur eine zweitrangige, lediglich indizielle Bedeutung zu. Abzustellen ist vielmehr auf den der Sonderzuwendung zugrundeliegenden Zweck. Soll lediglich die Arbeitnehmerleistung vergütetwerden, hat eine Anrechnung zu erfolgen; wird eine sonstiger Zweck honoriert, hat diese zu unterbleiben. Kommt die Auslegung der zugrunde liegenden Vereinbarung zu keinem hinreichenden Ergebnis, ist eine Anrechenbarkeit im Zweifel zu verneinen.183
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Sonderzahlungen, die unter einem Widerrufs-, Freiwilligkeits- oder Rückzahlungsvorbehaltausgezahlt werden, sind nicht auf den Mindestlohn anzurechnen.184 Dem steht selbst die Unwirksamkeit des Vorbehalts nicht entgegen.185 Stets kann eine Anrechnung nur dann erfolgen, wenn die gesamte Sonderzuwendung tatsächlich, vorbehaltslosund unwiderruflichausgezahlt wurde.186 Insoweit ist dem Arbeitgeber anzuraten, Sondervergütungen nicht mehr einmaligjährlich zu gewähren, sondern diese anteilig, gemeinsam mit der jeweiligen monatlichen Grundvergütung, zu entrichten. Kommt er dem nicht nach, scheidet eine Anrechnung dennoch nicht aus.187 Zwar ist eine für die Zeit vor der Auszahlung bestehende, verzögerte Gewährung des Mindestlohns mit der gesetzgeberischen Intention, einen angemessenen Mindestschutz des Arbeitnehmers zu gewährleisten, nur schwerlich zu vereinbaren.188 Auch drohen bußgeldrechtliche Sanktionen nach § 21 Abs. 1 Nr. 9, Abs. 3 MiLoG, da der mindestlohnrechtliche Fälligkeitstermin überschritten werden könnte, § 2 Abs. 1 MiLoG.189 Würde man aber nachträglichen Zahlungen die Erfüllungswirkung absprechen, wäre der Anspruch auf den Mindestlohn nicht klagbar.190 Ausreichend dürfte es in Hinblick auf § 2 MiLoG auch sein, wenn der Arbeitgeber die Sonderzuwendung zu Beginn des Jahres auf einmal vollständig und vorbehaltslos auszahlt, um diese dann für jeden Monat des Jahres mit 1/12 zu verrechnen (sog. Vorschussregelung).191 Um ganz sicher zu gehen, sollte die jährliche Sonderzahlung jedoch in ein laufendes monatliches Entgelt umgestaltet werden.192
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Enthält die arbeitsvertragliche Vereinbarung einer Sonderzuwendung zusätzlich zur Entlohnung der Arbeitsleistung eine Gratifikation (sog. Sonderzahlung mit Mischcharakter), ist die Zahlung insgesamt als eine Gegenleistung für erbrachte Arbeitsleistung anzusehen.193 Ob eine Anrechnung erfolgen kann, richtet sich dann nach den dargestellten Prinzipien (s. Rn. 49 f.), ohne dass der für die Gratifikation entrichtete Anteil getrennt behandelt werden könnte. Dem Arbeitgeber ist deswegen anzuraten, Gegenleistungen für Normalarbeit und Gratifikationen nicht in einer Sonderzahlung zu kombinieren, sondern auf separate Sonderzuwendungen aufzuteilen.194 In Tarifverträgen können Sonderzahlungen mit Mischcharakter dagegen weiterhin verwendet werden. Dort finden die §§ 307 ff. BGB keine Anwendung.
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Wendet man die dargestellten Grundsätze an, ergibt sich für die einzelnen Sonderzahlungen nachfolgendes Bild: Sofern Weihnachtsgeldeine Gratifikation darstellt,195 ist es nicht auf den Mindestlohn anzurechnen.196 Gleiches Ergebnis gilt für gewährtes Urlaubsgeld, wenn dem Arbeitnehmer hierdurch zusätzliche Urlaubsaufwendungen ausgeglichen werden sollen.197 Ein 13. Monatsgehaltwird dagegen regelmäßig als Gegenleistung für die erbrachte Arbeitsleistung entrichtet.198 Eine Anrechnung ist deswegen möglich. Erhält der Arbeitnehmer eine Treueprämie, sollen hierdurch besondere Leistungen honoriert werden, sodass eine Anrechenbarkeit ausscheidet.199 Etwas anderes gilt für Anwesenheitsprämien, da die bloße Anwesenheit des Arbeitnehmers als dessen normale Arbeitsleistung anzusehen ist.200 Als Gewinnbeteiligungausgestaltete Sonderzahlungen dienen der Identifikation mit dem Erfolg des Unternehmens.201 Eine besondere Arbeitnehmerleistung ist nicht erforderlich, sodass eine Anrechnung auf den Mindestlohn erfolgen kann. Anzurechnen sind zudem grundsätzlich Prämien für Ordnung und Sauberkeit sowie „Leergutprämien“.202
d) Aufwandsentschädigungen
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Unter Aufwandsentschädigungen versteht man Zahlungen des Arbeitgebers – wie z.B. Unterkunfts- und Verpflegungsleistungenoder Reisekosten–, mittels derer ein finanzieller Aufwand des Arbeitnehmers beglichen werden soll, der diesem aufgrund seiner erbrachten Arbeit entstanden ist.203 Sie sind keine Gegenleistung für erbrachte Arbeit, sodass eine Anrechnung auf den Mindestlohn nicht möglich ist.204 Im Falle der Entsendung folgt dies bereits aus Art. 3 Abs. 7 Satz 2 der Entsenderichtlinie,205 im Übrigen aus den Grundlinien der höchstrichterlichen Rechtsprechung (s. hierzu Rn. 42). Erhält der Arbeitnehmer ein Tage- oder Wegegeld, ist nach dessen Zweck zu differenzieren: Wird es als Ersatz für Fahrkosten entrichtet, scheidet eine Anrechnung aus; soll mit ihm die aufgebrachte Arbeitszeit vergütet werden, entscheidet sich die Anrechenbarkeit nach den allgemeinen Prinzipien (s. Rn. 42). Ein Aufwendungsersatz für Pendelzeitenzwischen Betrieb und Wohnstätte ist anrechenbar, soweit er über die angefallenen tatsächlichen Kosten hinausgeht.206
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Der Mindestlohnanspruch kann grundsätzlich nicht durch Naturalien – wie etwa Lebensmitteloder Wohnraum– bewirkt werden, da eine Geldsumme geschuldet ist, § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG.207 Ob entgegenstehende Vereinbarungen zulässig sind, egal ob diese eine unmittelbare Sachleistungspflicht oder nur eine Hingabe an Erfüllungs statt nach § 364 Abs. 1 BGB regeln, ist noch nicht abschließend geklärt. Einige Stimmen in der Literatur sehen hierin einen Verstoß gegen § 3 Satz 1 MiLoG, der auch den Charakter des Mindestlohns als reinen Geldanspruch schütze.208 Überzeugender erscheint jedoch die Anwendung des § 107 Abs. 2 Satz 1 GewO, der abweichende arbeits- oder tarifvertragliche Vereinbarungenzulässt,209 wenn dies dem Interesse des Arbeitnehmers oder der Eigenart des Arbeitsverhältnisses entspricht. Hierbei gilt die Pfändungsgrenze nach § 850c ZPO, die im Regelfall nicht weit unter dem monatlich zu zahlendem Mindestlohn liegen dürfte,210 § 107 Abs. 2 Satz 5 GewO.
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Für Arbeitnehmer, die befristet bei einem Arbeitgeber in Deutschland angestellt sind und Tätigkeiten ausüben, die aufgrund eines oder mehrerer immer wiederkehrender saisonbedingter Ereignisse an eine Jahreszeit gebunden sind, während der Bedarf an Arbeitskräften den für gewöhnlich durchgeführte Tätigkeiten erforderlichen Bedarf in erheblichem Maße übersteigt (sog. Saisonarbeiter), wird die Anrechnung von Kost und Logis nach § 107 Abs. 2 GewO von den Kontrollbehörden zugelassen.211 Überlässt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ein Kfz zur privaten Nutzung, kann dieser Vorteil nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden.212 Gleiches gilt im Ergebnis für Essensgutscheine,213 Personalrabatte,214 Aktienoptionenund kostenlose Kinderbetreuungsmöglichkeiten.215
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