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Liegt ein gesetzlicher Feiertagvor oder ist der Arbeitnehmer unverschuldet krankheitsbedingt arbeitsunfähig, kann er diejenige Vergütung beanspruchen, die ihm auch bei Erbringung der Arbeitsleistung zugestanden hätte. Dies ist das Entgelt, das ohne Arbeitsausfall angefallen wäre, also zumindest der Mindestlohnstundensatz, § 1 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 MiLoG.148 Der Anspruch folgt dann direkt aus den §§ 2 ff. EfzG und nicht aus § 1 MiLoG.149
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Während des gesetzlichen Erholungsurlaubsschuldet der Arbeitgeber ebenfalls den Mindestlohn.150 Nach § 11 BUrlG bzw. Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie151 haben Arbeitnehmer Anspruch auf den durchschnittlichen Arbeitsverdienst, den sie sonst auch im Referenzzeitraum erhalten würden (sog. Referenzprinzip). In diesem muss ihnen zumindest der Mindestlohn gewährt werden, § 1 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 MiLoG. Dies gilt auch für den über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehenden Erholungsurlaub.152
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Befindet sich der Arbeitgeber in Annahmeverzug, folgt die Mindestlohnpflicht aus § 615 BGB i.V.m. der vertraglichen Vergütungsvereinbarung. Der originäre Entgeltanspruch bleibt bestehen.153 Der Arbeitnehmer ist so zu bezahlen, als ob er gearbeitet hätte. Sein Lohn darf wegen § 1 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 MiLoG nicht unter dem Mindestlohnstundesatz liegen. § 615 Satz 2 BGB bleibt anwendbar.154
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Da die Entgeltfortzahlungsansprüche direkt aus §§ 2 ff. EfzG, § 11 BUrlG sowie § 615 BGB folgen – und nicht aus § 1 MiLoG –, unterliegen sie nichtden Schutzmechanismen des Mindestlohngesetzes.155 Dies hat zur Folge, dass der Zollverwaltung keine Kontroll- und Sanktionsbefugnisse nach den §§ 14 ff. MiLoG zustehen,156 Bußgelder nach § 21 MiLoG für die Nichtgewährung des Mindestlohns während des Zeitraums des Entgeltausfalls also nicht verhängt werden können. Auch greift § 3 MiLoG nicht ein, der die Unabdingbarkeit des Mindestlohnanspruches normiert. § 13 BUrlG sowie § 12 EfzG bieten jedoch ein äquivalentes Schutzniveau. Für § 615 BGB ist die Abdingbarkeit dagegen umstritten.157 Schließlich greift auch die Auftraggeberhaftung nach § 13 MiLoG i.V.m. § 14 AEntG nicht.
3. Mindestlohnwirksame Lohnbestandteile
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Der Mindestlohn ist in Höhe von gegenwärtig brutto 9,19 EUR zu entrichten. Welche Zahlungen des Arbeitgebers dabei als mindestlohnwirksame Bestandteile angesehen werden können – also inwieweit Zulagen und Zuschläge, Sonderzahlungen, Aufwandsentschädigungen, Sachleistungen sowie sonstige Arbeitgeberleistungen auf den Mindestlohn anzurechnen sind –, regelt das MiLoG nicht.158 Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit kann durch Anwendung der Grundlinien der Rechtsprechung von EuGH und BAG etwas gemindert werden.159 Eine erste Orientierungshilfe bieten auch die Rechtsauffassungen von Zoll und BMAS, die in Ansätzen online eingesehen werden können.160 Freilich entfalten diese keine rechtliche Bindungswirkung. Die für den Rechtsschutz gegen mindestlohnrechtliche Bußgeldbescheide zuständigen ordentlichen Gerichte, vgl. § 68 OWiG, werden sich jedoch vermutlich – zumindest in der Anfangsphase – an den Auffassungen der Kontrollbehörden orientieren.
a) Grundsatz: Mindestlohnrechtliches Äquivalenzprinzip
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Mindestlohn ist das Entgelt im eigentlichen Sinne.161 Vorrangiger Zweck des gesetzlichen Mindestlohns ist es, jedem Arbeitnehmer ein existenzsicherndes Monatseinkommen zu gewährleisten.162 Mindestlohnwirksam, d.h. geeignet den Mindestlohnanspruch zu erfüllen, sind demgemäß alle im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachten Entgeltzahlungen mit Ausnahme der Vergütungen, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf eine tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erbringt oder die auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung, wie etwa § 6 Abs. 5 ArbZG, beruhen.163 Denn der Mindestlohn ist nach § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG „je Zeitstunde“ festgesetzt und das Gesetz macht den Anspruch nicht von der zeitlichen Lage der Arbeit oder den mit der Arbeitsleistung verbundenen Umständen oder Erfolgen abhängig.164 Die Entstehungsgeschichte des Mindestlohngesetzes gebietet kein anderes Verständnis, da der Begriff der „Normalleistung“ keinen Eingang in dessen Wortlaut gefunden hat.165 Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, der als Anrechenbarkeitsgrenze das Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung setzt, das durch die Arbeitgeberzahlung nicht verändert werden dürfe.166
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Zulagen und Zuschläge sind nichtauf den Mindestlohn anzurechnen, wenn diese für ein Mehr an Arbeitsleistung gezahltwerden,167 mit ihnen also nicht nur die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers vergütet werden soll. Dies ist stets im Einzelfall anhand aller konkreten Umstände festzustellen.168 Entscheidend ist dabei, inwieweit mit dem verfolgten Leistungszweckeine besondere Leistung des Arbeitnehmers vergütet werden soll. Dieser ist durch Auslegung der zugrunde liegenden Vereinbarungzu ermitteln, wobei für einen Arbeitsvertrag der objektive Empfängerhorizont gemäß §§ 133, 157 BGB,169 für einen Tarifvertrag die allgemeinen Auslegungsgrundsätze für Gesetze heranzuziehen sind.170 Lässt sich das Telos nicht hinreichend ergründen, ist im Zweifel eine Anrechnung abzulehnen.171
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Zulagen und Zuschläge mittels derer Arbeit zu besonderen Zeiten vergütet werden soll – wie etwa Wechselschichtzulagen–, können grundsätzlich auf den Mindestlohn angerechnet werden, sofern die Zulage keiner besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung unterliegt.172 Auszuscheiden hat eine Anrechenbarkeit aber in den Fällen der Nacht- und Schichtarbeit i.S.d. § 6 Abs. 5 ArbZG.173 Zuschläge für Arbeit an Sonn- und Feiertagen sind grundsätzlich mindestlohnwirksam und werden nicht zusätzlich zum gesetzlichen Mindestlohn geschuldet.174
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Zulagen und Zuschläge für Arbeiten unter besonders unangenehmen, gefährlichen sowie körperlich oder psychisch belastenden Umständen (sog. Erschwerniszulagen) können ebenfalls grundsätzlich nicht angerechnet werden. Hierunter fallen etwa Zahlungen für Lärm, Hitze, Kälte, Schmutz oder besondere Gefahren. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn die Zulagen für eine Arbeit gezahlt werden, die in sich schon die besonderen Erschwernisse aufweist und eine separate Ausweisung im Vertrag nur deklaratorischen Charakter hat.175
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Akkord- und Qualitätsprämienwohnt der Zweck inne, den Arbeitnehmer zur Leistung von mehr Arbeit pro Zeit bzw. zu besonderer Arbeitsqualität zu motivieren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie für eine über das Normalmaß hinausgehende Leistung bezahlt werden.176 Nach Auffassung des BAGs hat, unter Zugrundelegung der Entgelttheorie, dennoch eine Anrechenbarkeit auf den Mindestlohn stattzufinden.177
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Indem der Arbeitnehmer über die für sein Beschäftigungsverhältnis vereinbarte Arbeitszeit hinaus arbeitet, erbringt er Überstunden.178 Hierbei leistet er im Vergleich zur normalen Arbeitszeit ein Mehr an Arbeit. Für dieses Sonderopfer entrichtet der Arbeitgeber Überstundenzuschläge, die gemäß der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf den Mindestlohn angerechnet werden können.179 Folgt man dagegen der teilweise in der Literatur vertretenen Gegenansicht, die eine Anrechnung verneint,180 ist es insoweit unerheblich, ob die geleistete Überstunde – beispielsweise bei einem Teilzeitbeschäftigten – unter der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit eines vollbeschäftigten Arbeitnehmers bleibt, da nur auf die über die vertraglich geschuldete hinausgehende individuelle Mehrarbeit abzustellen, nicht jedoch ein Vergleich mit Vollbeschäftigten vorzunehmen ist.
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