»Komisch, ich habe den Geschichtsunterricht ein wenig anders in Erinnerung.«
Sie erreichten eine umlaufende Galerie. Jen lehnte sich auf das hüfthohe Geländer. Unter ihnen wimmelte es von geschäftig dreinblickenden Magiern. »Lichtkämpfer und jene unter den Schattenkämpfern, die genug von dem Chaos hatten, das ihre eigenen Leute anrichteten, vereinten sich. Sie schufen den Wall. Ein magisches Konstrukt, das uns aus den Erinnerungen der Nimags getilgt hat. Alle glauben nun, dass Magie Büchern und Filmen vorbehalten ist, dass sie nie existierte.«
»Praktisch.«
Sie nickte. Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. »Leider stellte sich heraus, dass es in der Führungsriege der Lichtkämpfer einen Verräter gab.« Sie malte ein Symbol in die Luft, der Bereich vor dem Castillo wurde sichtbar. In der Luft schwebten weiße Kristalle. »Das Kristallnetz umgibt das Castillo und schützt es vor schwarzmagischen Eindringlingen. Bis heute weiß niemand, wie der Überläufer es damals geschafft hat, den Schutz auszuschalten. Wir nennen das, was er damals getan hat, ›Kristallfeuer‹. Sie brannten, wurden zu Staub. Dann begann der Kampf.«
Unweigerlich entstanden Bilder von leuchtenden Symbolen, flirrenden Energien und Blut vor Alex' innerem Auge. »Aber ihr habt gewonnen.«
»Wir, du gehörst nun dazu.« Sie nickte. »Der Wall wurde im allerletzten Augenblick erschaffen.«
»Sollten die Schattenkämpfer nicht froh darüber sein? Ich meine, so können sie weiter im Verborgenen wirken.«
Jen ließ das Bild der Schutzkristalle verschwinden. Gemeinsam schlenderten sie die Galerie entlang. »Der Wall konnte nur erschaffen werden, weil den Magiern ein mächtiges Artefakt zur Verfügung stand. Wir nennen ihn den Onyxquader. Nach der Entstehung des Walls – die Essenz im Quader war dadurch aufgebraucht – bediente sich der Wall fortan von unser aller Sigilen.«
»Ich verstehe. Damit werden alle Magier, ob Licht- oder Schattenkämpfer, geschwächt.«
Sie nickte mit hochgezogener Braue, als hätte sie ihm einen so logischen Gedanken gar nicht zugetraut. »Das trifft es ziemlich genau. Ein wenig ist es, als hätte jemand Gerüche entfernt, Musik leise gedreht und die Umgebung in Schwarz und Weiß verwandelt. Es muss wirklich schlimm gewesen sein. Wir kennen unsere Kraft nur so, wie sie ist. Doch jene, die zu dieser Zeit bereits erwacht waren, mussten leiden. Die Gewöhnungszeit …«
»Schon klar.«
Sie führte ihn eine geschwungene Wendeltreppe empor. »Das Gröbste weißt du ja nun. Du bist ein Magier, das Wissen wird nach und nach kommen. Und wieder verschwinden. Du musst es selbst vertiefen und anwenden, um es festzuhalten.«
»Zurück auf die Schulbank.«
»So ähnlich. Magische Symbole kannst du mit deinem Finger oder dem Essenzstab in die Luft zeichnen. Bei komplexen Zaubern müssen zusätzlich magische Worte mit dem Symbol verknüpft werden, ebenso in manchen Fällen, um den Zauber überhaupt auszulösen; die musst du übrigens im richtigen Augenblick aussprechen. Alles nicht so einfach, wie man glaubt. In den nächsten Tagen erhältst du deinen Essenzstab. Da er nicht übergeben werden konnte – der deines Vorgängers wurde vernichtet –, wirst du einen eigenen bekommen.«
Sie zog ihn zur Seite, als ein Lichtkämpfer vorbeieilte.
»Mit dem Stab kannst du auch Magie in Materialien einwirken lassen. Er ist die Erweiterung deines Sigils und nahezu unzerstörbar. Außerdem kann er gegen Stichwaffen eingesetzt werden. Im Kampf gegen andere Magier wird er auch als … Duellwaffe benutzt.«
»Duell, echt jetzt? Ich bin begeistert.«
Sie schmunzelte. »Magie hat auch ihr Gutes. Aber eines solltest du wissen: Jeder Zauber kommt mit einem Preis. In der Regel ist es einfach nur Essenz, die deinem Sigil entzogen wird. Die Regeneration kann durchaus eine Weile dauern. Manchmal allerdings … aber dazu kommen wir später.«
Sie betraten das Turmzimmer.
»Darf ich vorstellen, Alexander Kent, Neuerweckter.« Jen deutete mit beiden Händen untermalend auf ihn.
Vor ihm, über einen Tisch gebeugt und nun aufschauend, stand eine schlanke Frau Mitte zwanzig. Ihre Haut war braun, das Haar lang und schwarz. »Hi, ich bin Clara. Clara Ashwell«, stellte sie sich vor.
Er nickte ihr freundlich zu, verkniff sich aber jeden Kommentar zu ihrer Schönheit. Es reichte schon, dass Jen ihn auf dem Kieker hatte.
Auf einer Couch saßen zwei Typen. Einer von beiden trug sein dunkelblondes Haar seitlich kurz geschnitten. Das Gesicht war kantig, ein maskuliner Typ. Da er mit dem anderen Kerl neben ihm Händchen hielt, war unschwer festzustellen, dass sie ein Paar waren. »Hi, ich bin Kevin.«
»Und ich Max.« Er war etwas kleiner, hatte schmale Gesichtszüge und mittellanges braunes Haar, das leicht verwuschelt abstand.
Verblüfft stellte Alex fest, dass es eine weitere Ausgabe von Kevin gab.
Zwillingsbrüder, begriff er sofort.
»Chris.« Bruder Nummer zwei trug ein Muskelshirt, auf seinem rechten Oberarm prangte eine Tätowierung, die bis auf das Schulterblatt reichte. Er musterte Alex von oben bis unten, als wollte er abschätzen, ob dieser eine Konkurrenz darstellte.
Oh ja, Alter, das tue ich. Verlass dich drauf. Ich kusche vor niemandem. »Hi.«
Chris nickte.
»Normalerweise gibt es noch Chloe. Aber die ist unterwegs«, erklärte Clara.
»Schön, nachdem das geklärt ist: Alex wurde vom Rat geprüft. Er hat eine Bernsteinaura, Essenzstab wird neu vergeben. Krafteinschätzung besagt oberes Drittel. Kein Sprungmagier.«
»Mist«, ärgerte sich Kevin. »Das wäre echt praktisch gewesen.«
»Davon gibt es zu wenige«, erklärte Jen. »Wir hier sind ein Team. Abgesehen von Max, er besucht uns nur ziemlich oft.«
Bei diesen Worten grinsten Kevin und Max.
»Schon klar.« Alex lachte.
»Dann sollten wir unseren Rundgang …«
»… unterbrechen«, unterbrach Clara. »Ich habe etwas gefunden, das wir sofort besprechen müssen. Es geht um Mark.«
»Dein Vorgänger«, erklärte Jen.
»Der gestorben ist?«
»Du bist der Erbe seiner Macht, ja«, kam es von Kevin.
»Wie ist es denn passiert?«
»Genau darum geht es«, warf Clara ein. Vor ihr auf dem Tisch lagen mehrere dicht beschriebene Seiten Papier, Bücher und ein länglicher, verzierter Stab. Letzteren nahm sie auf und ließ ihn in der Tasche verschwinden. »Ich habe einen Destilationszauber angewendet, um Marks Aufzeichnungen durchzugehen. Bevor sie im Archiv eingelagert werden, wollte ich nach wichtigen Informationen suchen.«
»Und?«, fragte Jen. Die Anspannung im Raum nahm sprungartig zu.
»In den letzten fünf Wochen geriet er sechs Mal in Lebensgefahr. Ich habe es überprüft. Scheinbar war die Sache in England nur die Spitze des Eisbergs.«
»Jemand wollte ihn umbringen?«, fragte Max entsetzt. »Aber warum?«
»Gute Frage«, kam es von Clara. »Leider wusste er das selbst nicht. Erst nach der dritten Attacke hat er Verdacht geschöpft und wollte es dem Rat und uns mitteilen. Allerdings ist zu viel passiert.«
Alex zuckte zusammen, als Jen nach einem herumliegenden Buch griff. Es flog quer durch den Raum. Gleichzeitig brüllte sie: »Verdammter Idiot! Er könnte noch leben! Wieso hat er nicht ein Mal die Klappe aufgemacht! Aber nein, immer alles alleine lösen wollen!«
»Jen.« Kevin trat zu ihr und nahm sie in die Arme. »Wir finden heraus, wer dafür verantwortlich ist, okay?«
»Natürlich«, erwiderte sie. »Trotzdem ist er ein Idiot.«
»Klar ist er das.«
Sie knuffte ihn in die Seite. »Du auch. Nur, damit das klar ist.«
»Sowieso.« Kevin grinste.
Beide lachten.
»Was tun wir also?«, fragte Chris. »Wir wissen weder, was es mit diesem Folianten auf sich hat, noch, warum die Wächtergruppe nicht in das Pergament eingetragen wurde. Und nun stellt sich heraus, dass Mark von den Schattenpennern gezielt anvisiert wurde. Wieso?«
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