Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen hockte er hier in einem Traum, der sich verdammt real anfühlte.
Auf einem der Stühle saß eine rotblonde Frau. Sie wirkte energiegeladen, stark, von einem inneren Feuer erfüllt. »Schön, dass Sie es zu uns geschafft haben, Mister Kent«, sagte sie lächelnd. »Es sah ja nicht immer so danach aus.«
»Ja, da war diese Alte … keine Ahnung …«
»Wir nennen sie Parasiten«, erklärte die Unbekannte. »Sie ernähren sich durch das Abzapfen magischer Essenz. Sehr gefährliche Kreaturen.«
»Parasit. Magische Essenz«, murmelte er. »Alles klar.«
»Sie werden das bald verstehen. Ihnen wird jemand zugeteilt, der alle Ihre Fragen beantwortet. Doch zuvor müssen wir einen Test machen.«
»Wer sind Sie überhaupt?«, fuhr er auf. »Ich werde hierhergeschleppt wie ein Verbrecher und soll Tests bestehen! Sie können mich mal!«
»Bitte.« Sie deutete auf die Tür. »Es steht Ihnen frei, jederzeit zu gehen. Vermutlich überleben Sie die ersten zehn Schritte, bevor jemand Sie erledigt. Wir kümmern uns dann um Ihren Sigilerben.«
Er starrte sie an, verdutzt und wütend gleichermaßen. Jedes zweite Wort aus ihrem Mund ergab keinen Sinn. Was zum Teufel war ein Sigilerbe? »Okay, ich bleibe sitzen.«
»Schön. Mein Name ist Johanna von Orléans und ich bin eine von sechs Ratsmitgliedern. Das hier«, dabei deutete sie auf den etwa dreißigjährigen Mann mit den schwarzen Locken, der auffallend ruhig neben ihr saß, »ist Leonardo da Vinci.«
Sie schwieg.
Deutlich verzögert entfalteten sich die Worte in Alex' Geist, sickerten in sein Bewusstsein. »Sagten Sie gerade Johanna von Orléans? Leonardo da Vinci?«
Sie winkte ab. »Eines nach dem anderen. Nun wollen wir uns erst einmal um Sie kümmern.«
Die sind alle verrückt. »Aha.«
Die Frau, die sich für Johanna von Orléans hielt, stand auf. Wie dahingezaubert lag ein hölzerner Stab in ihrer Hand, der mit Ornamenten verziert war. Sie trat neben ihn. »Das hier ist ein Essenzstab. Nein, stellen Sie keine Fragen, das kommt alles noch. Ein Magier trägt in seinem Inneren eine Quelle, die ihn mit magischer Kraft ausstattet. Dieses Sigil ist bei jedem einzigartig. Stirbt ein Magier, sucht das Sigil selbstständig nach einem neuen Träger, einem Erben der Macht. Es verschmilzt mit seinem Ich und verändert seine Form. Niemals, unter keinen Umständen, darf jemand Ihr Sigil sehen.«
»Aha.« Er nickte, kam sich aber vor wie der größte Idiot. Allerdings sah er vor seinem inneren Auge tatsächlich ein seltsam verschlungenes Symbol, das von einem farbigen Nebel umgeben war.
»Das Sigil produziert die magische Essenz, mit der wir unsere Zauber weben. Die Aura schützt das Sigil«, erklärte Johanna. »Wenn Sie aufgrund äußerer Umstände dazu gezwungen werden, die gesamte Essenz aufzubrauchen, die durch das Sigil abgesondert wurde, bedient es sich an der Aura. Ist diese verbraucht …, verzehrt es Sie. So starb Ihr Vorgänger.«
»Oh.« Mann, Alter, heute bist du schlagfertig.
»In den nächsten Tagen wird das Wissen Ihres Vorgängers langsam in Ihnen heranreifen. Sie müssen es selbst durch Studien vertiefen, sonst gerät es wieder in Vergessenheit. Um Magie zu wirken, zeichnen wir Symbole.« Sie fuhr mit dem Finger durch die Luft und hinterließ eine Feuerspur. »Das nennen wir Magiespur. In zahlreichen Fällen muss zudem ein Wort der Macht gesprochen werden, um den Zauber auszulösen. Jede Spur hat eine andere Farbe. Um Zauber in Material wirken zu lassen, nutzen wir diesen Stab. Sie können damit natürlich auch Symbole in der Luft zeichnen.« Sie hob das Holzding in die Höhe. Im nächsten Augenblick fuhr sie damit über seine Haut. Ein Symbol entstand auf dem Arm, es kitzelte.
Um Alex herum bildete sich bernsteinfarbener Nebel.
»Damit wäre Ihre Farbe enthüllt.« Seltsamerweise atmete Johanna dabei auf.
»Bernstein«, murmelte Leonardo. Er schrieb etwas auf ein vergilbtes Pergament, das daraufhin verschwand. »Schön, dann schauen wir mal.« Er stand auf. »Welche Stärke haben Sie wohl?«
Johanna trat beiseite.
»Bitte, zeichnen Sie dieses Symbol«, bat er.
Leonardo machte es vor. Zuerst befürchtete Alex, dass er ein so komplexes Gebilde niemals erschaffen konnte. Bevor er jedoch wirklich begriff, was geschah, entwickelten seine Finger ein Eigenleben. Der Zauber wuchs aus sich selbst heraus. Dann sagte er: »Fiat Lux.« Überall in der Luft entstanden glühende Feuerbälle, die ihre Form veränderten; ein Schiff, eine Blume, ein Haus.
Sie erloschen.
»Das war nicht schlecht.« Leonardo wirkte beeindruckt. »Ich würde sagen: oberes Drittel. Damit kann man gut arbeiten. Eine leichte Steigerung gegenüber Marks Potenzial.« Nun wirkte auch er erleichtert. »Wunderbar.«
»Das heißt, ich bin … ein Magier?«
Johanna schlug ihm grinsend auf die Schulter. »Absolut. Glückwunsch, Sie werden ab sofort Ihr Leben riskieren und gegen Schattenkämpfer vorgehen, um den Wall vor Schaden zu bewahren.«
»Hä?«
»Das heißt ›Wie bitte?‹, mein Junge«, kam es prompt. »Vielleicht kriegen wir das mit den Manieren noch ein wenig besser hin. Am besten nehmen wir Verhaltensregeln in Ihren Studienplan mit auf.«
Beinahe hätte er ein weiteres »Hä« drangehängt. Im letzten Augenblick bekam er die Kurve. »Echt jetzt? Das hier ist Hogwarts?«
Leonardo rollte schnaubend mit den Augen. »Wenn ich das noch ein einziges Mal höre, lösche ich jede Erinnerung an diese Buchreihe. Und die Filme dazu. In der gesamten Menschheit.«
»Sie werden neben den Außeneinsätzen auch Unterrichtsstunden erhalten«, erklärte Johanna. »Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter, es sei denn, Sie wollen diese Chance vertun. Ein Fehler dort draußen, und Sie sind tot. Im schlimmsten Fall geraten andere Ihres Teams ebenfalls in Gefahr. Verstanden?«
»Klar.« Er nickte.
Sie lächelten ihm zu, wünschten ihm viel Spaß in dieser für ihn neuen Welt, und im nächsten Augenblick stand er wieder draußen.
»Wurde auch Zeit.« Eine stupsnasige Brünette mit schulterlangem, seidig-glänzenden, Haar lehnte, die Arme verschränkt, an der Wand.
»Endlich mal ein schöner Anblick.« Er schenkte ihr sein brillantestes Lächeln, drängte Angst und Verwirrung zurück. Aus der Sache konnte man etwas machen. Er war ein verdammter Magier! Er konnte Alfie helfen. Und seiner Mum.
»Mein Name ist Jennifer Danvers.« Sie stieß sich ab, kam auf ihn zu. »Jen reicht. Ich wette, du überlegst gerade, wie du deine Magie einsetzen kannst, um Frauen rumzukriegen.«
Alex' Wangen wurden beängstigend heiß. »So etwas würde ich niemals tun! Wie ginge das denn?«
Jen schnaubte. »Lauf mir einfach hinterher und versuche, dir alles zu merken. Stelle so wenige Fragen wie möglich und erspar dir … sprich am besten gar nicht.«
Schon setzte sie sich in Bewegung. Scheinbar hatte sie etwas gegen ihn. Er runzelte die Stirn. War sie nicht dagewesen, als er kurzzeitig das Bewusstsein wiedererlangt hatte? Da mache ich ihr ein Kompliment – und dann das. Wow, was für ein Hintern.
»Das hier ist das Castillo Maravilla. Es dient den Lichtkämpfern seit Generationen als Basis. Natürlich gibt es überall auf der Welt verteilt Außenposten und sichere Häuser, die im Notfall genutzt werden können.«
Sie stiegen die Treppe empor. »Bis vor einhundertsechsundsechzig Jahren wussten Nichtmagier – wir nennen sie Nimags – von uns. Magier und gewöhnliche Menschen lebten Seite an Seite. Doch die Schattenkämpfer machten sie zum Spielball, beeinflussten, verzauberten, manipulierten. Natürlich bemerkte die Öffentlichkeit das. Wenn du wüsstest, wie viele Kriege und Katastrophen der Menschheitsgeschichte auf das Wirken von schwarzmagischen Wesen zurückgehen, du wärst entsetzt.«
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