Ich holte mir ein Glas Apfelschorle, dann lief ich die Treppen hoch ins Schlafzimmer. Es war spät geworden und morgen musste ich früh aufstehen. Doch als ich im Bett lag, konnte ich nicht einschlafen. Ich drehte mich von einer Seite zur anderen, fand aber keine Ruhe. Ich fühlte mich ... einsam. Wie immer, wenn Lloyd nicht da war.
Seufzend setzte ich mich auf und machte das Nachttischlicht an. Wenn ich sowieso wach war, gab es keinen Grund, nicht mit den Fiorita zu reden. Und ich wusste genau, mit wem ich ein wenig plaudern wollte. Ich schloss die Augen und sang das wohl komplizierteste Lied, das ich kannte. Lunas Lied in der Sprache der Geister. Es war eine besondere Sprache, die kein Mensch kannte oder verstand. Ich verstand sie intuitiv, die Fiorita benutzten sie immer, wenn sie mit mir redeten.
Mit dem hellsten aller Lichtblitze erschien Luna vor mir. Der dreifarbige Geist des Lichts richtete seine dunkelbraunen Augen direkt auf mich. „Hallo Mia“, erklang ihre glockenhelle Stimme.
„Hi Luna“, antwortete ich und streichelte über das weiche hellrosa Fell an ihrem Kopf. Am Schweif erstrahlte es so gelb wie das ihres Bruders Sol, am Körper hellblau.
Die Anführerin der Geister schmiegte sich an meine Hand. „Du machst dir schon wieder so viele Sorgen.“
„Ich wollte hinter mir lassen, dass ich jemals Ranger war“, flüsterte ich. „Aber sobald ich allein bin, denke ich ständig daran. Ich hab Angst um meine Freunde und Kollegen. Ich will, dass mein Vater hinter Gitter kommt ...“
„Das betrifft dich nicht mehr, wie du es wolltest. Du bist so weit weg“, redete sie auf mich ein.
„Manchmal frage ich mich, ob ich das wirklich hinter mir lassen kann.“ Ich drückte Luna an mich. „Aber egal. Darum geht’s gar nicht. Das Schlimmste ist gerade eigentlich, dass ich mich etwas einsam fühle. Ich hab mich wohl schon zu sehr daran gewöhnt, dass Lloyd immer bei mir ist.“
Sie lächelte milde. „Dann schlafe doch ein, solange du mich noch auf Fioria halten kannst“, schlug sie vor.
Ich erwiderte ihr Lächeln und machte das Licht aus. „Gute Idee“, flüsterte ich und kuschelte mich an sie. „Ich muss für die Arbeit morgen fit sein.“
„Genau, morgen geht der Alltag wieder los. Und dann hast du bestimmt so viel zu tun, dass du gar nicht mehr an die Ranger und Schattenbringer denken kannst“, vermutete sie. „Und denk erst an die Geburt eures Takuto. Der hält euch bestimmt auf Trab!“
Ich kicherte. „Da hast du recht. Kindererziehung ist eine Herausforderung, darauf wette ich.“
Luna nickte. „Es ist ja schon anstrengend, auf meinen Bruder aufzupassen, diesen Kindskopf. Aber deine Ermahnung hat ihm zu denken gegeben.“
„Immerhin“, murmelte ich im Halbschlaf. Ich wurde immer müder, auch vor Erschöpfung, weil ich ein so mächtiges Fiorita bei mir hatte.
Das Letzte, was ich noch hörte, war Lunas Flüstern: „Schlaf gut, Mia. Und mach dir keine Sorgen mehr. Denk nur an das Hier und Jetzt.“
Und genau dieser Rat war es, der mir durch die nächsten Monate half.
Laut klopfte Lloyd von draußen an die Tür des Schlafzimmers. „Mia, bitte, komm doch endlich raus!“
„Nein!“, schrie ich. „Lass mich in Ruhe!“
„Jetzt lass uns doch reden“, flehte er.
„Ich will nicht!“, weigerte ich mich und presste mir beide Hände auf die Ohren, während ich mich sitzend auf dem Bett zusammenkauerte, soweit es mein dicker Bauch zuließ.
„Du hast mich völlig falsch verstanden“, drang Lloyds Stimme gedämpft zu mir vor. „Hör mir doch zu!“
„Da gab es nichts falsch zu verstehen!“, tobte ich. „Ich hab genau gehört, wie du zu Elly gesagt hast, dass du nach der Geburt nicht mit Takuto zu Hause bleiben würdest. Ist ja auch Frauensache, was? Ich soll das Heimchen am Herd spielen, schon klar!“
„Eben nicht! Meine Güte, Mia, seit du im siebten Monat bist, werden deine Launen immer schlimmer“, schnaubte er.
Vor lauter Wut krallte ich meine Finger in das Bettlaken unter mir. „Klar, schieb es auf die Hormone, damit du dich besser fühlst!“, brüllte ich.
„Ich hab nur gesagt, dass wir noch nicht genau wissen, wie es nach der Geburt weitergeht“, entgegnete er. „Und dass ich wahrscheinlich wieder arbeite. Wir müssen doch die Miete zahlen.“
„Und dafür ist dein Gehalt natürlich besser als meins!“
„Du hast doch längst Mutterurlaub beantragt, oder nicht?“
„Aber du bist ja nicht mal dazu bereit, dich um unser Kind zu kümmern!“
„Nein, Mia.“ Plötzlich klang Lloyds Stimme schwach. „Ich hab nur Angst, dass ich ... dass ich ... ach, vergiss es.“
„Dass du was?“, rief ich in Richtung der Tür.
„So rede ich nicht mit dir. Entweder du machst auf oder ich gehe runter ins Wohnzimmer.“ Gerade als ich antworten wollte, dass er heute Nacht genau dort auf dem Sofa schlafen würde, verrauchte meine Wut so schnell, wie sie gekommen war. Mein Gesicht fühlte sich nicht mehr so heiß an, mein Herz hörte auf zu rasen. Ich fühlte mich nur ausgelaugt. Vielleicht hatte ich ihn wirklich falsch verstanden.
„Warte“, flüsterte ich und stand ungelenk auf, um zur Zimmertür zu gehen. Nur zögerlich drehte ich den Schlüssel im Schloss.
Lloyd öffnete langsam die Tür, er sah mir direkt in die Augen und seufzte. Er wirkte ein wenig verzweifelt, seine dunkelbraunen Strähnen lagen wirr übereinander, als hätte er sich unablässig das Haar gerauft. Mit dem Handrücken strich er mir die übrigen Tränen aus dem Gesicht. „Können wir jetzt in Ruhe reden?“
„Na gut“, schniefte ich.
Als wir uns nebeneinander auf die Bettkante setzten, zeigte der Wecker schon Mitternacht an. Wir hatten den ganzen Abend gestritten ...
„Mia, ich meinte wirklich nicht, dass ich von dir erwarte, dass du dich allein um Takuto kümmerst“, begann er das Gespräch. „Und wenn du darauf bestehst, kann ich mir auch freinehmen und du gehst wieder arbeiten. Aber in den ersten Wochen ist Takuto doch auf dich angewiesen. Du bist doch diejenige, die ihn stillen wird.“
„Ja ...“, murmelte ich. Ich kam mir so dumm vor. Derartige Überreaktionen traten immer öfter auf. „Aber was wolltest du mir vorhin sagen? Wovor hast du Angst?“
Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Es ist nur, dass ... also, ich ...“
Besorgt musterte ich ihn. „Was denn?“, hakte ich nach und strich ihm über den Rücken. Doch er reagierte lange nicht.
Endlich blickte er wieder auf und nahm meine Hände in seine. „Ich hab wirklich Angst, dass ich kein guter Vater werde.“
Mir klappte der Mund auf. Diese Worte hörte ich zum ersten Mal. Von diesen Zweifeln hatte ich nichts gewusst. Doch ich hätte es merken müssen. Ich hätte merken müssen, dass nicht nur ich mir Sorgen um die Zukunft machte. Dass nicht nur ich mit Selbstzweifeln kämpfte. Schlagartig musste ich weinen. „Es tut mir so leid“, schluchzte ich.
„W...w...was?“, stammelte Lloyd. „Was tut dir denn leid?“
Ich schniefte laut. „Dass ... ich nichts gemerkt habe! Dabei bin ich doch fast immer bei dir. Aber ich wusste gar nicht, dass du dir auch solche Sorgen machst!“
„Auch?“, wiederholte er und legte mir einen Arm um die Schultern.
Wortlos nickte ich, während es mich schüttelte. Ich sah nicht zu meinem Freund, ich fixierte die Wand direkt vor mir. Ich brachte es nicht über mich, ihm in die Augen zu schauen. Ich schämte mich so.
„Ganz ruhig“, flüsterte er und schloss mich sanft in seine Arme. Er ließ mich etwas weinen, bis ich ruhiger wurde. „Also hast du auch Angst davor?“
„Ich hab totale Panik“, gestand ich und klammerte mich an ihn, das Gesicht in seiner Halsbeuge vergraben. „Ich hab solche Panik, als Mutter zu versagen. Ich habe schon als Ranger versagt, als Mädchen aus der Legende, meinetwegen mussten wir nach Renia fliehen ... Wie soll ich mich da um ein Kind kümmern?“, wimmerte ich.
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