Das Dancing am Padovani-Strand ist alle Tage offen. In diesem rechteckigen riesigen Lokal, das in seiner ganzen Länge aufs Meer geht, tanzt die Jugend des ärmlichen Stadtviertels bis zum Abend. Dort habe ich häufig einen einzigartigen Augenblick abgewartet. Tagsüber ist der Saal durch schräge Bretter gegen Wind und Sonne geschützt. Ist die Sonne verschwunden, so nimmt man sie weg. Dann füllt sich der Saal mit einem seltsam grünen Licht, wie das Innere einer Riesenmuschel, deren Schalen Himmel und Meer heißen. Sitzt man weit genug weg von den Fenstern, so sieht man nichts als den Himmel, an dem die Gesichter der Tanzenden wie Schattenbilder nacheinander vorbeiziehen. Hin und wieder wird ein Walzer gespielt; dann drehen sich die schwarzen Profile auf dem grünen Hintergrund emsig umeinander wie ausgeschnittene Silhouetten, die man auf einer Grammofonplatte im Kreise laufen lässt. Dann kommt, sehr schnell, die Nacht mit all ihren Lichtern. Aber ich kann nicht in Worte fassen, worin das hinreißend Geheimnisvolle dieses kostbaren Augenblicks besteht. Immerhin erinnere ich mich an ein großes, prachtvolles Mädchen, das den ganzen Nachmittag getanzt hatte. Es trug eine Halskette aus Jasminblüten über seinem engen blauen Kleid, das von den Hüften bis zu den Beinen schweißnass war. Es lachte beim Tanzen und warf den Kopf in den Nacken. Kam es dicht an den Tischen vorbei, so ließ es einen Geruch von Körper und Blumen zurück. Wurde es dann Abend, so sah ich seinen Körper nicht mehr, der sich an seinen Tänzer presste – ich sah nur noch den hellen Jasmin und das dunkle Haar am Himmel kreisen; und wenn es den Kopf zurückwarf, hörte ich sein Lachen und sah, wie sich das Gesicht seines Tänzers plötzlich über seinen schwellenden Hals beugte. Meine Vorstellung von Unschuld verdanke ich solchen Abenden. Seitdem vermag ich diese von heftigen Leidenschaften erfüllten Geschöpfe nicht mehr zu trennen von jenem Himmel, an welchem ihre Begierden kreisen.
In den kleinen Kinos von Algier kann man hin und wieder Pfefferminzbonbons kaufen mit Zettelchen, auf denen in roter Schrift alles steht, was nötig ist, um eine Liebschaft ins Leben zu rufen: 1. Fragen: »Wann werden Sie mich heiraten?«; »Lieben Sie mich?«; 2. Antworten: »Bis zum Wahnsinn«; »Im Frühling«. Hat man das Terrain sondiert, so gibt man die Zettelchen seiner Nachbarin, die auf dieselbe Weise antwortet oder tut, als verstände sie nicht. In Belcourt ist es mehrfach passiert, dass auf diese Weise Ehen zustande gekommen sind und zwei Menschen sich durch einen Austausch von Pfefferminzbonbons fürs ganze Leben verbunden haben – ein hübscher Beweis für die Kindlichkeit dieses Volkes!
Jungsein bedeutet vielleicht, dass man berufen ist, mühelos und strahlend glücklich zu sein. Vor allem aber bedeutet es, dass man sich mit verschwenderischem Leichtsinn ins Leben stürzt. Die Männer in Belcourt und auch in Bab-el-Oued heiraten jung. Sie beginnen sehr früh zu arbeiten und erschöpfen die Erfahrung eines ganzen Lebens innerhalb von zehn Jahren. Ein Arbeiter von dreißig Jahren hat bereits seine sämtlichen Trümpfe ausgespielt und wartet, umgeben von seiner Frau und seinen Kindern, auf sein Ende. Sein Glück war kurz und heftig und kennt kein Erbarmen. Genauso sein Leben. Man begreift, dass er ein Kind dieses Landes ist, wo das Glück all seine Gaben wieder zurückfordert. In dieser Fülle und Verschwendung wird das Leben bestimmt durch große, jähe, anspruchsvolle und großmütige Leidenschaften. Man baut es nicht auf: Man verbrennt es; daher denn auch niemand nachdenkt oder besser zu werden trachtet. So ist hier beispielsweise die Vorstellung der Hölle nur ein liebenswürdiger Scherz. Solche Fantasien sind nur den Allertugendhaftesten erlaubt; und »Tugend«, glaube ich, ist in ganz Algerien ein Wort ohne Bedeutung. Deshalb fehlt es diesen Menschen nicht etwa an festen Grundsätzen. Man hat seine Moral, und zwar durchaus eine eigenwillige. Man lässt seine Mutter »nicht im Stich«. Man beschützt seine Frau auf der Straße. Man ist zuvorkommend gegen Schwangere. Man fällt nicht zu zweien über einen Einzelnen her, weil das »sich nicht gehört«. Wer diese einfachsten Gebote nicht beachtet, »ist kein Mann«; damit ist alles gesagt. Das scheint mir eine gerechte und gesunde Auffassung zu sein. Es gibt unter uns noch viele, die unbewusst diese ungeschriebene Straßenmoral respektieren – meines Wissens die einzige uneigennützige Moral. Aber genauso wenig trifft man hier die Krämerseele an. Die Gesichter um mich herum drückten stets Mitleid aus, wenn ein Mann von Polizisten abgeführt wurde. Und bevor überhaupt bekannt war, ob der Mann gestohlen hatte, ein Vatermörder oder schlichtweg ein Nonkonformist war, sagte man: »der Arme« oder sogar mit einem Anflug von Bewunderung: »Das ist ein Pirat.«
Es gibt Völker, die von Natur stolz und lebenslustig sind. Gleichzeitig sind grade sie am meisten der Langeweile ausgeliefert, und ihre Vorstellung vom Tode ist abstoßend banal. Die Belustigungen dieses Volkes sind albern, wenn man von den Freuden der Sinne absieht. Seit undenklichen Zeiten geben sich die Leute über dreißig zufrieden mit Unterhaltungen wie Kino, Kegelspielen, Vereinsfeiern und Gemeindefestlichkeiten. Nichts Trübsinnigeres als ein Sonntag in Algier! Wie kann man von diesem geistlosen Volk erwarten, dass es sich die tiefe Trostlosigkeit seines Lebens durch Mythen verhüllt? Alles, was mit dem Tode zu tun hat, wird als lächerlich oder als peinlich empfunden. In diesem Volke ohne Religion und ohne Idole lebt man gesellig und stirbt allein. Ich kenne keinen widerlicheren Ort als den in einer der schönsten Landschaften der Welt gelegenen Kirchhof des Boulevard Bru. Zwischen lauter Denkmälern von schlechtestem Geschmack und lauter schwarzen Gestalten zeigt der Tod sein trostlosestes, sein wahres Gesicht. »Alles vergeht, nur die Erinnerung bleibt«, steht auf den herzförmigen Votivtafeln. Alle sind zufrieden mit dieser lächerlichen Ewigkeit, mit der die liebevollen Überlebenden uns so billig abspeisen wollen. Es sind die gleichen Phrasen, mit denen jede Verzweiflung sich tröstet. Man redet mit dem Toten in der zweiten Person: »Unser Gedenken verlässt Dich nicht« – eine üble Heuchelei, die das, was bestenfalls ein schwarzer Schleim ist, mit einem Körper und mit Gefühlen ausstattet. An einer anderen Stelle liest man unter einer betäubenden Fülle von Blumen und Marmortauben das kühne Gelöbnis: »Nie soll Dein Grab ohne Blumen sein.« Aber etwaige Zweifel schwinden schnell; denn über die Inschrift neigt sich ein Strauß vergoldeter Gipsblumen, die den Überlebenden viel Zeit ersparen (genau wie jene »Immortellen«, die ihren pompösen Namen der Dankbarkeit jener eiligen Leidtragenden verdanken, die auf die schon fahrende Straßenbahn springen). Da man mit der Zeit gehen muss, so ersetzt man bisweilen die klassische Lerche durch ein perlgesticktes Flugzeug, an dessen Steuer ein alberner und mit einem überflüssigen Flügelpaar ausstaffierter Engel sitzt.
Man darf trotzdem nicht übersehen, dass diese Bilder des Todes stets eine Beziehung zum Leben behalten. Der beliebteste Scherz der algerischen Totengräber, die mit leerem Wagen fahren, besteht darin, den jungen Mädchen auf der Straße zuzurufen: »Steig ein, mein Schatz!« Der symbolische Charakter dieser Aufforderung, so peinlich er sein mag, ist unverkennbar. Ebenso kann es lästerlich wirken, wenn jemand beim Lesen einer Todesanzeige das linke Auge zukneift mit den Worten: »Der Arme hat ausgerungen«; oder wie jene Dame aus Oran, die ihren Gatten nie geliebt hatte, auszurufen: »Gott hat ihn mir gegeben; Gott hat ihn mir wieder genommen.« Letzten Endes aber sehe ich nicht ein, was am Tode heilig sein soll; hingegen empfinde ich deutlich den Unterschied, der zwischen Angst und Respekt besteht. In diesem Lande, wo alles uns auffordert zu leben, bebt auch alles zurück vorm Sterben. Und dennoch trifft die Jugend von Belcourt sich mit Vorliebe an der Friedhofsmauer, um Küsse und Zärtlichkeiten auszutauschen.
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