Dabei blieb er ein Getriebener. Auch wenn er selten explizit politisch wurde, wollte er doch mehr, als nur Musik machen. Er arbeitete hart daran, seinen Songtexten Bedeutung und Tiefe zu geben. Jahre später reflektierte er 1996 in einem Interview mit dem Schwulen- und Lesbenmagazin The Advocate das Musikverständnis, das er in den 80er-Jahren hatte. „Ich war ein ernsthafter junger Mann … ich war überzeugt, dass man mit Rockmusik ernsthafte Dinge anstellen kann, sie hatte eine Macht, sie hatte eine Stimme. Ich glaube das verdammt noch mal noch immer.“
Auch auf Reisen war Springsteen ein eifriger Beobachter seiner Gastländer, stets erpicht, einen oder zwei Sätze der Landessprache zu lernen und allzeit bereit, die Kultur des jeweiligen Landes in sich aufzusaugen. Auch auf der Bühne streute er fast immer ein paar Bemerkungen in der Landessprache ein. Sein Credo hat er mehrfach ausgesprochen: Rockmusik relevant zu machen für die Leute, die sie hören, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Einkommens, ihres Alters, ihrer Religion oder Nationalität. In dem Interview von 1998 mit Double Take sagt Springsteen: „Ich hatte immer ein paar hochfliegende Vorstellungen, um die Leute mit meiner Musik zum Nachdenken darüber zu bringen, was richtig und was falsch ist.“ In einem seiner seltenen, ausführlicheren TV-Interviews gab er 2002 im US-Sender ABC ebenfalls einen Einblick in seine Philosophie. „Ich wollte eine Arbeit abliefern, die relevant für die Menschen ist und Einfluss auf die Themen hat, die ich wichtig finde.“
Wie Springsteen in der Phase seines großen Erfolgs mit Born in the USA in Amerika wahrgenommen wurde, fasste ein grandioser Beitrag von Bernhard Goldberg im Sender CBS im September 1984 zusammen. „Springsteen singt über Amerikaner der Arbeiterschicht, Amerikaner, die gefangen und erstickt sind in vergammelten, abgewrackten Kleinstädten. In seinen Liedern geht es um Arbeiter, verzweifelte Menschen, die am amerikanischen Traum hängen, wie an einem Faden. Seine Lieder mögen von Desillusionierung handeln, aber ihre Essenz erzählt dir, dass die Botschaft Hoffnung ist. Bruce Springsteen ist der amerikanische Traum – seine Wurzeln sind die eines Arbeiters aus New Jersey. Sein Vater war ein Busfahrer, oft weg von zuhause bei der Arbeit. Die Botschaft ist: Arbeite hart und du wirst es schaffen.“
Goldberg hat das Wesen der Musik Springsteens verstanden. „Er singt über den Widerspruch zwischen Freiheit und Machtlosigkeit in Amerika, über Jugendliche, die noch träumen und Erwachsene, die wissen, wie es wirklich zugeht. Er berührt seine Fans und sie berühren ihn.“ In einem Interview des Senders MTV wurde Springsteen einmal unverblümt gefragt, was er mit seiner Musik erreichen wolle. „Die einzige Botschaft ist: Verkauf dich nicht unter Wert, mach was aus deinem Leben“, war seine ebenso einfache wie klare Antwort. Es war genau diese Botschaft, die er im Juli 1988 seinem ruhelosen und lebenshungrigen Publikum in der DDR überbringen sollte.
Ungeachtet seiner persönlichen Schwierigkeiten in dieser Zeit gab Springsteen bei seiner Tournee von 1988 wie üblich alles, um dem Publikum das zu bieten, worauf es auch nach seiner eigenen Meinung für sein „hart verdientes Geld“ einen Anspruch hatte. Er schien aber die Abkehr von den ganz großen Massenveranstaltungen, die die „Born in the USA“-Tour gekennzeichnet hatten, zu schätzen. Im ersten Teil der „Tunnel of Love Express“-Tour spielte er von Februar bis Mai 1988 in den USA wieder in kleineren Hallen. Seinem Biografen Dave Marsh zufolge hat Springsteen in dieser Zeit einen „kreativen Wechsel zwischen Massenveranstaltungen und kleineren, kunstvolleren Auftritten etabliert, wie es kein anderer Superstar vermocht hat.“ Dies sei zwar wichtig für sein Image und für ihn selbst, habe sich aber in reinen Verkaufszahlen nicht ausgewirkt, schrieb Marsh in seinem Buch Two Hearts: Bruce Springsteen, the Definitive Biography, 1975–2003 .
Springsteen selbst schien das aber nicht weiter zu stören. Statt wieder häufiger in riesigen Stadien aufzutreten, tourte er weiter in kleineren Hallen, die ihn in den Anfangsjahren über Wasser gehalten haben. Aber auch seinen Fans mutete der Rockstar Neuerungen zu. „Zumindest am Anfang der Tournee verzichtete er auf all die bekannten E-Street-Band-Extravaganzen. Die Konzerte waren kürzer und viele der vermeintlich unentbehrlichen Megahits wie Badlands , Thunder Road und The Promised Land wurden aus dem Programm genommen. Das war eine Herausforderung an das Publikum und seine Erwartungen an Springsteen“, konstatiert Marsh. Auf dem europäischen Teil der Tournee im Sommer 1988 aber spielte Springsteen wieder in den großen Stadien, und die Konzerte waren wieder Spektakel in gewohnter Länge, die bei hellem Tageslicht begannen und Stunden später, mitten in der Dunkelheit der Nacht, endeten. Auf Turin am 11. Juni folgten Rom, Paris, Birmingham, London, Rotterdam, Stockholm, Dublin, Sheffield, Frankfurt, Basel und München, bevor er Ostberlin auf den Tourplan setzte. Das Programm bestand aus Songs des aktuellen Albums, aber auch wieder aus den Hits der Zeit davor.
Es gelang Springsteen aber nicht, das private Zerwürfnis mit seiner Frau während seiner Europatour vollständig aus der Öffentlichkeit zu halten. Denn Julianne Philipps hatte selbst im Juni ihre Trennung bekannt geben lassen. Damals äußerte er sich nicht, aber in einem Interview mit dem New York Times Magazine von 1997 sprach er über seine Beziehung zu seiner Frau. Das Paar habe sich einfach auseinandergelebt. „Wir waren sehr verschieden, und mir wurde klar, dass ich nicht wusste, wie es funktioniert, verheiratet zu sein.“
Während der Europa-Tour im Juli und August 1988 druckten zahlreiche Boulevard-Blätter Fotos von Springsteen und Scialfa. Scialfa war 1984 auf Bitten von Springsteen als Background-Sängerin zur E Street Band gestoßen, nachdem er das Gefühl hatte, die Truppe habe sich zu sehr zu einem „Jungens-Club“ entwickelt. Aufgewachsen ist sie wie Springsteen in New Jersey, nur ein paar Kilometer entfernt von seiner Heimatstadt Freehold. Als die Tournee Station in Ostberlin machte, war ihre Romanze in vollem Gang, auf und auch neben der Bühne. Nur sechs Wochen nach dem Konzert in Weißensee reichten Springsteen und Philipps die Scheidung ein, und Bruce war bereit, ein neues Kapitel in seinem Leben aufzuschlagen.
Ein Poster von der „Tunnel-of-Love-Express“-Tour des Jahres 1988, handsigniert von Bruce Springsteen
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