Josefa schoss aus dem Hinterhalt auf mich zu und umklammerte mein Bein.
»Herzlichen Glückwunsch, Geburtstagskind!« Ich hob sie hoch. Während sie sich an mich drückte und die Arme um meinen Hals legte, schloss ich die Augen.
»Ich habe sie doch ganz schön lieb«, erklärte ich Heidrun, die aus der Haustür trat.
»Das hast du«, bestätigte Heidrun amüsiert, »und es wundert dich jedes Mal. Du solltest öfter kommen, dann vergisst du nicht so schnell, wer dir etwas bedeutet. Übrigens, dein Vater ist schon da.«
Ich riss die Augen auf und trat einen Schritt rückwärts auf die Gartenpforte zu, suchte Halt, indem ich die kalte Klinke umklammerte.
»Nichts da!« Heidrun schärfte ihren Tonfall. »Ich habe Opa eingeladen, aber schlussendlich ist er euer Vater.«
»Vielleicht«, meuterte ich leise.
»In welcher Bedeutung des Wortes auch immer«, ergänzte Heidrun. »Ich finde nicht gut, was sie mit dir abgezogen haben. Trotzdem: Er hat für dich gesorgt.«
So war das, wenn man eine kleine Nichte hatte. Vor Josefas Geburt hatte ich Ruhe und Abstand gehabt. Ich hatte Hilmar an seinem Geburtstag gesehen, wenn es hochkam. Vater hatte ich eine Karte geschickt. Mutter war seit Jahren tot. Nun krauchte alles um das Kind zusammen, und Heidrun zurrte die Familienbande enger. Ich hätte damit rechnen sollen, dem Zahnarzt zu begegnen. Kurz nach Josefas Geburt hatte er unsere alte Wohnung verkauft und war Heidruns Wunsch folgend nach Heringsort gezogen. Die Luft wurde mir knapp, als ich, den kleinen Moppel im Arm, das Haus betrat.
Mein Vater kam mir im Rollstuhl entgegen. Einen Moment erschrak ich, obwohl seine Entscheidung, sich nicht ständig mit dem Rollator voranzuquälen, Jahre zurücklag.
»Mein Kind«, sagte er mit weitgeöffneten Armen. Ich biss die Zähne zusammen, wich zurück und reichte ihm unserer Familiensitte gemäß höflich die Hand.
»Hej, Katharina.« Hilmar klopfte mir auf die Schulter. »Mich umarmt er neuerdings auch«, wisperte er mir ins Ohr. »Sei mal nicht so.«
»Du bist sein Sohn«, flüsterte ich zurück.
»Und du seine Tochter.«
»Haha!«
Josefa regte sich »Will runter!«
Sie nahm mich bei der Hand und zog mich zu dem Tisch, auf dem ihre Geschenke lagen.
»Wow!« Ein ganzer Eimer mit Duplo-Steinen!
»Von Opa!«
Da war er wieder in seinem Rollstuhl.
»Unsere Kleine hat mir erzählt, dass ihr plant, die Welt neu zu erschaffen. Ich fand das unterstützenswert.«
»Danke.« Ich sah nicht einmal auf.
»Wir legen die Steine auf den Esstisch und bauen gemeinsam«, schlug er vor.
»Ja, Opa!« Josefa wackelte zum Tisch, in jeder Hand einen Duplo-Stein.
Er sah mich an: »Ich weiß schon, dass es zu spät ist, dein Vater werden zu wollen.« Und weiter mit über den Augen zusammengezogenen Brauen: »Du brauchst gar nicht die Lippen zusammenzukneifen. Ich sehe es an deinem Musculus masseter, dass du schon wieder mit den Zähnen knirschst.« Und lauter werdend: »Ich hoffe, du trägst jedenfalls deine Schiene in der Nacht.«
»Doch, Vater«, sagte ich.
Hilmar stellte sich neben mich.
»Hack nicht immer auf Katharinas Zähnen herum, Papa. Sie kann nichts dafür. Sie hat jeden Abend geputzt – von rot zu rot – die kreisende Putzbewegung war noch nicht erfunden – viel sorgfältiger als ich. Es hat ihr nichts geholfen.«
Ich nickte: »Ich habe nicht eure Zahnsubstanz. Daran muss es liegen.«
Josefa warf mit lautem Lachen einen Duplo-Stein zu Boden.
»Zeig du mir mal deine Zähnchen«, bat der Opa.
Heidrun verschwand, um Essen vorzubereiten, während Hilmar sich am Computer zu schaffen machte.
»Ich bin dabei, den Film zu schneiden, den ich aufgenommen habe, als wir letztens mit Josefa am Strand waren.«
Heidrun deckte den Tisch.
»Das Salz fehlt«, stellte Hilmar fest, als alle um den Tisch versammelt waren.
»Was bist du nur für ein Arschloch!« Heidrun stieß heftig den Stuhl zurück, rannte in die Küche, kam zurückgewogt und knallte das Salzfässchen vor ihn hin.
»Danke.« Er nahm es und salzte sein Essen nach.
Nach dem Essen half ich Heidrun beim Abräumen und in der Küche.
»Ich hasse ihn.« Die Teller schepperten aus ihrer Hand in den Geschirrspüler. »Ich habe damals versucht, ihn loszuwerden, weißt du, aber er war so beharrlich.«
Ich erinnerte mich – Sommer ’93 – neunzehn Jahre war das her. Nie zuvor hatte ich Heidrun so verträumt erlebt. In allem, was wir in jenen Tagen erlebten, war ihr Hilmar, selbst in den Tieren auf der Koppel, die uns Apfelstücke von der Hand fraßen. ›So sind seine Lippen, weich wie eine Pferdeschnauze.‹ Mir war das gegen den Strich gegangen.
»Jetzt ist es zu spät, ihn zu verlassen«, behauptete sie.
»Warum?«
Sie druckste herum: »Würde ich denn mit Josefa am Rockzipfel Arbeit finden … und in meinem Alter …«
»Du hättest das Salz nicht holen müssen.«
Die Wut in ihrem Gesicht wich einem gequälten Ausdruck.
»Er arbeitet so viel in der Praxis – es käme mir unfair vor. Ihr denkt doch sowieso alle, dass ich ihn wegen der Praxis geheiratet habe.«
Ich grinste. Außer Heidrun selbst wäre wohl niemand auf diesen Gedanken gekommen.
›Vielleicht ist es sexuelle Abhängigkeit‹, hatte sie ’93 sinniert.
›Vielleicht bist du verliebt?‹, hatte ich dagegengehalten.
›Quatsch! Ich verliebe mich nicht! Ich denke gar nicht daran!‹
»Fertig.« Heidrun füllte das körnige Spülmittel in das Fach, verschloss es sorgsam und klappte die Tür der Maschine hoch. Wie routiniert sie ihre häuslichen Pflichten erledigte …
Als wir jung gewesen waren, hatte ich Heidrun bewundert: Gegen den Willen ihrer Eltern hatte sie sich nach der Realschulreife eine Ausbildungsstelle als Gas-Wasser-Installateurin gesucht. Das war in den siebziger Jahren alles andere als einfach gewesen. Nachdem sie die Lehre abgeschlossen hatte, hatte sie auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgemacht und im Anschluss ein Studium zur Bauzeichnerin begonnen. Nebenher arbeitete sie, um sich ihr WG-Zimmer finanzieren zu können. Ich dagegen saß auf dem weichen finanziellen Polster der Zahnarztfamilie und mäanderte durch verschiedene Studiengänge. Dann kam es mit der Liebe zwischen meinem Bruder und ihr zum Bruch zwischen uns. Die beiden heirateten knapp zwei Jahre später. Als sie kurz darauf ihren Beruf aufgab und die Rolle der Helferin ihres Mannes einnahm, war es mir wie Verrat an unserer gemeinsamen Sache erschienen, obwohl ich nicht hätte sagen können, worin diese Sache bestand. Heidrun drehte den Schalter der Spülmaschine, und ich spürte eine wilde Lust, sie herauszufordern.
»Du könntest dir Arbeit suchen, jetzt wo Josefa in die Kita geht. Dann bist du unabhängig von Hilmar.«
Sie funkelte mich an: »Du meinst wohl, ich ruhe mich auf Kosten deines Bruders aus!«
»Nein! Gar nicht!«
»Diese ständige Abwertung der Hausfrauenrolle kotzt mich an! Hilmar ist der Einzige, der meine Arbeit zu schätzen weiß!«
»Das freut mich für euch!«
Sie warf ein Handtuch nach mir, stürmte hinaus, die Küchentür fiel lautstark ins Schloss. Wie ein Echo hörte ich nur wenige Sekunden danach weitere Türen knallen.
Mir schien, es wäre nun langsam Zeit für mich zu gehen.
»Tschüs, Kathinka.« Hilmar winkte.
»Tante bleibt!« Josefa stampfte mit dem Fuß.
»Warte einen Moment, Katharina, ich komme mit.« Vater rollte in den Flur, suchte nach seinem Mantel.
Musste das sein? Am liebsten wäre ich davongelaufen.
»Schon fertig!«
Ich griff nach seinem Rollstuhl, bugsierte ihn vorsichtig rückwärts die Schwelle hinunter in den Garten, zu meinem Erstaunen, ohne dass der Zahnarzt protestiert hätte. Auch als ich die Griffe weiter in der Hand behielt und ihn vom Grundstück hinaus auf den Gehweg rollte, blieb er friedlich sitzen. Wenig später kam er zur Sache.
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