Lufthauch starrte Tama verärgert hinterher und fragte sich, warum sie ihn nicht zu sich mit nach oben genommen hatte und was so stark sein konnte, seinem Elfencharme zu widerstehen. Er winkte zurück. Wäre sie mit mir gekommen, wenn ich sie gefragt hätte? Ein müßiger Gedanke ohne eine feste Bleibe hier. Jetzt kann ich mich erst einmal um einen Schlafplatz für die Nacht kümmern. So kann doch keiner arbeiten. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Ich brauche eine Wohnung hier. Am besten hoch unter dem Dach in einer der Hauptgeschäftstraßen. Die Wehrhüter würden das bezahlen müssen, denn als Waldläufer oder Jäger konnte er sich so etwas nicht leisten. Mit diesen für einen Wehrhüter äußerst befremdlichen Gedanken eilte er mit langen Schritten zum Stadtrand. Sumpfwasser hatte ihm gesagt, wo er eine Spinne finden würde. Er brauchte einen neuen Plan.
Pando schaute Tama und Lufthauch nach, wie sie gemeinsam davongingen. Über den kleinen Stich in seiner Brust sah er geflissentlich hinweg, zuckte dann mit den Achseln und wandte sich Torso zu. „Du hast jetzt zwei neue Freunde, Torso.“
„Ihr wart zu dritt. Dritter kein Freund?“
„Nein, er ist kein Freund von dir.“
„Dann Feind. Aufessen.“
„Er ist auch kein Feind von dir. Er ist noch zu jung, weiß selbst noch nicht, wer seine Freunde und wer seine Feinde sind. Gib ihm Zeit.“
„Zeit habe ich viel. Kann ich leicht geben.“
Pando ließ nachdenklich seinen Blick über Torso wandern. Was nun, dachte er. Was mach‘ ich mit so einem wie dir? Kannst du mir etwas von dem Geheimnis verraten, dem ich auf die Spur kommen möchte?
Pando hob die zerrissenen Fetzen seiner Kleidung auf und lachte. „ So etwas passiert, wenn man seine Gestalt verwandelt und sich nicht die Zeit nimmt, sich vorher auszuziehen. Ich lasse dir die Fetzen hier. Vielleicht kannst du noch etwas damit anfangen.“
Torso griff danach, starrte auf den guten Stoff, zerrte daran herum, suchte nach einer Idee. Dann warf er sie auf einen Haufen anderer Gegenstände. „Danke“ , sagte er.
„Wo hat man dich gefangen?“ , wollte Pando wissen.
„Weiß nicht. Wo ich lebte. Sumpfrand.“
„Willst du zurück dorthin?“
„Draußen ist nicht sicher.“
„Hier auch nicht.“
Aber Torso war anderer Meinung. „Schlangenauge braucht mich gegen Bürgerwehr. Bürgerwehr braucht mich gegen Schlangenauge. Schlangenauge braucht Bürgerwehr und Bürgerwehr braucht Schlangenauge.“
„Wofür brauchen die sich denn gegenseitig?“
„Bürgerwehr hat Ideen. Schlangenauge macht, was Bürgerwehr will. Ich mache, was Schlangenauge will. Manchmal. Dann gibt es viel zu essen.“
Pando lachte auf. „Viel für die Bürgerwehr und wenig für dich, mein Freund. Wird Zeit, dass wir das ändern. Aber du hast recht. Nirgendwo bist du so sicher wie hier.“
Torso überlegte. Für ihn war das Thema noch nicht abgeschlossen. „Ich würde nicht weit kommen“ , sagte er.
„Warum nicht? Du müsstest fliegen. Ich könnte dir dabei helfen.“
Torso machte einen erschrockenen Schritt rückwärts. „Nicht fliegen. Wir haben alle Angst davor. Wir sind alle stark und gefährlich, aber fürchten Stürze aus der Höhe. Wir alle.“
Es stellte sich heraus, dass Torso eine große Anzahl von Geschwistern hatte. „Leben jetzt meist unter Wasser“ , sagte er.
„Aber hier bist du allein.“
Torso schüttelte energisch den Kopf. „Habe eine Frau hier.“
„Eine Gestaltwandlerin?“
Erneutes Kopfschütteln.
„Oder meinst du Tamalone, deine neue Freundin?“
„Nicht Tama, eine Elfe.“
„Du meinst, eine Elfe besucht dich hier?“ Pando wollte es nicht glauben.
Torso schüttelte den Kopf. Er war kein Freund vieler Worte. „Lebt im Elfenviertel. Nur einmal getroffen. Genug für mein ganzes Leben.“
Pando wandte sich ab. Er konnte das Elend nicht mit ansehen und dachte nur bei sich: „Macht denn der Fluch des Elfencharmes vor gar nichts Halt?“ Zu Torso aber sagte er: „Ich muss dich jetzt verlassen. Ich werde zurückkommen. Mit ganz viel Essen. Entweder ich komme oder Tama kommt oder wir kommen beide.“
Mit diesen Worten verschwand die Raubkatze und machte einem Ledervogel Platz.
„Noch nie einen gesehen, der so schnell sich wandelt“ , sagte Torso anerkennend.
„Bis bald, Freund“ , sagte Pando und nahm Anlauf, um vom Boden wegzukommen.
Nach ihrem Abschied von Lufthauch fand Tama ihr Zimmer trostlos leer vor. Pando, dieser Feigling, hatte sich erst gar nicht mehr blicken lassen. Für einen Moment schenkte ihr das eine gewisse Genugtuung, bevor das Graue Tuch der Sinnlosigkeit auf sie herabfiel und ihr alles nahm, was dem Leben einen Wert gab. In diesem Augenblick der Schwäche wollte sie Lufthauch hinterherlaufen, aber dann rief sie sich zur Ordnung. Lufthauch war im Trubel der Nacht verschwunden und würde dort seinen Trost finden. Und außerdem, sie hatte auch ihren Stolz. Stolz und Trotz kamen als Erste zurück. Trotzdem tat die plötzliche Einsamkeit weh. Warum schmerzte sie so? Einsamkeit war doch in der Siedlung der Bergarbeiter ihr ständiger Begleiter gewesen? Aber jetzt war alles ganz anders. Wenn man glaubt, einen Freund gefunden zu haben und dann feststellen muss, dass man sich geirrt hat und nur betrogen wurde, bohrt sich der Schmerz auch durch die dicksten Schwielen. Und Lufthauch war ebenso wenig ein Freund wie Pando, sondern nur eine weitere Enttäuschung. Von allen Wesen, die sie in NA-R kennengelernt hatte, blieb ihr nur noch Torso.
So verbrachte Tama den Abend allein in der Gesellschaft ihrer Gedanken. Und auf diese Gesellschaft hätte sie auch gut verzichten können, denn sie hatte nichts zu erzählen, was sie nicht bereits wusste, und klebte hartnäckiger auf ihren Stühlen als betrunkene Saufkumpane. Der Schlaf schaute während der Nacht noch einige Male mitleidig vorbei, wurde aber von dem Durcheinander in ihrem Kopf jedes Mal wieder vertrieben, sodass Tama den Sonnenaufgang mit rotgeränderten Augen begrüßte.
Sie quälte sich mit einem Fluch aus dem Bett und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Das Frühstück sättigte sie nicht, weil ihr Hunger noch schlief, und Brot, Zwiebeln und Käse hatten von gestern auf heute ihren Geschmack verloren. „Was nun?“, fragte sie sich und versuchte vergeblich, der Welle aus Hilflosigkeit und Verzweiflung zu trotzen. Wie sollte sie nun ins Elfenviertel gelangen, ohne auf die Hilfe Pandos zählen zu können? Es musste einen Weg dort hinein geben, und sie würde Mutter finden, weil sie Mutter finden musste. Und wenn sie sie dann gefunden hatte, würde sie sie fragen, wer ihre Eltern waren und Mutter so lange festhalten, bis sie eine Antwort von ihr bekommen hatte. Doch besaßen diese Worte keine Kraft, klangen leer und bereits verbraucht. „Rauch und Asche“, fluchte sie. Es gab unzählige Leute in dieser Stadt. Da musste es doch möglich sein, neue Freunde zu finden, die einem helfen konnten. Während Tama noch überlegte noch, wie sie das anstellen wollte, klopfte es an ihrer Tür.
„Tamalone?“, schallte es herein. Der König wartet auf Euch. An Eurer Stelle würde ich mich sputen.“
Tama streckte der Stimme die Zunge heraus. Was wollte denn jetzt Nachtnebel von ihr? Sollte sie etwa springen, nur weil der hohe Herr nach ihr pfiff? In ihrem Ärger stampfte sie mit dem Fuß auf wie ein kleines Kind und stellte überrascht fest, wie gut ihr das tat. Die Holzdielen federten ein wenig, was den Schall dämpfte und ihr gleichzeitig einen Stoß durch den ganzen Körper schickte. Um mit beiden Füßen aufzustampfen, musste sie hochspringen. Der Rückstoß begann in den Fersen, schoss aufwärts durch ihre Beine, wanderte durch das ganze Rückgrat und endete im Kopf. He, das fühlte sich gut an! Tama begann, Schockwelle auf Schockwelle durch ihren Körper zu schicken. Der Körper erwachte, das Leben kam in ihren Körper zurück, und mit dem Leben auch etwas von der verlorengegangenen Lebensfreude. Nachtnebel ruft nach mir und ich springe tatsächlich, aber anders als er meint, dachte sie und fing an zu lachen. Lachen heilt. Lachen pustet Ärger hinweg, Lachen ist Magie. Mit einem Lachen sollte man den Tag begrüßen. Tama kam wieder zu Atem, stellte sich vor den Spiegel und streckte nun sich und der ganzen Welt die Zunge heraus. Grauenvoll sah sie aus mit den vielen Flecken, die sie sich bei Torso geholt hatte, aber das war ihr jetzt egal. Sie verhüllte das Elend mit einem leichten Umhang. Reinigen konnte sie ihre Kleidung immer noch. Aber die Welt sollte sie nicht mit gesenktem Kopf sehen.
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