Emery hatte mittlerweile mit dem Putzen aufgehört und starrte Duffy mit offenem Mund an.
Okay, in Ordnung. Er hatte sich also den Lebenslauf seines Klienten eingeprägt. So beeindruckend war das auch wieder nicht. Und nur, weil man ihm nicht anhörte, dass er bei seinem Vortrag mit den Augen rollte, musste das noch lange nicht stimmen. Schließlich konnte Emery sein Gesicht nicht sehen.
»Äh, ja«, sagte er und versuchte, sich wieder zusammenzureißen. »Das bin ich.«
Duffy nickte. »Deine Arbeit ist wichtig und gut. Mein Alter und ich haben uns nie sehr gut verstanden, aber er hat mir beigebracht, einen Mann zu schätzen, der etwas aus sich macht. Du hast deine ersten Videos mit deinem Handy im Schlafzimmer gedreht. Jetzt gibst du gefährdeten Jugendlichen ein Dach überm Kopf und finanzierst ihre Ausbildung.«
Emery biss sich auf die Lippen. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Nein, nein, nein. Er brauchte keine Zustimmung – von niemandem. Schon gar nicht von einem Mann wie Duffy. Duffys Meinung sollte für ihn sowieso keine Rolle spielen. Emerys emotionale Reaktion war nicht mehr als die Erleichterung darüber, dass er nicht schon wieder niedergemacht wurde. Das war alles.
»Ja, gut. Die meisten Leute denken, ich mache nur Tamtam und eine Unmenge an Drama und die Welt wäre ein besserer Ort, wenn es mich nicht gäbe.«
Duffy zog eine Augenbraue hoch und sah ihn über die Schulter an. Emery putzte schnell weiter. »Diese paar Idioten sind nicht die meisten Leute. Vergiss sie. Auf jedes von diesen Arschlöchern kommen Hunderte von Kindern und Jugendlichen, denen du geholfen hast. Selbst wenn sie nur deine Videos ansehen und wissen, dass sie nicht allein sind.«
Dem konnte Emery nicht widersprechen. »Ja«, sagte er abwesend. »Ich wette, du hattest als Jugendlicher mehr Vorbilder. Ich hatte niemanden. Null.«
Duffy schnaubte und stellte mit einem lauten Knall einen Teller in die Spülmaschine. Oh, das hatte ihm nicht gefallen. Emery kniff die Augen zusammen. Vielleicht hörte er nicht gerne, dass er mit einem Privileg auf die Welt gekommen war? Wie viele heterosexuelle, weiße und attraktive Mittelklassemänner hatte Emery schon erlebt, die ihm mit knirschenden Zähnen vorgeworfen hatten, dass er von ihnen eine Entschuldigung verlangte für etwas, wofür sie nicht verantwortlich wären? Dass sie sich alles verdient hätten, was sie erreicht hatten?
Emery würde nie jemandem vorwerfen, dass er nicht hart gearbeitet hätte, um im Leben etwas zu erreichen. Aber es machte ihn wütend, wie viele von ihnen einfach ignorierten, dass es auch Menschen gab, die weniger glücklich waren. Menschen, die Widerstände überwinden mussten, die sich die Mehrheit dieser Privilegierten im Traum nicht vorstellen konnte.
Und genau deshalb hatte er seine Internet-Karriere als Influencer eingeschlagen. Er hatte vor etlichen Jahren niemanden gefunden, der für ihn sprach und Geschichten aus einem Leben erzählte, mit dem Emery sich identifizieren konnte. Er hatte sich gewünscht, einmal – nur einmal – den Fernseher einschalten oder ins Internet gehen und sagen zu können: Oh mein Gott, ja… Das bin ich.
Sollte dieser verdammte ekleinhater doch seine Morddrohungen schicken. Sollten er und die anderen Trolle seine Posts doch mit ihren gehässigen Kommentaren überschwemmen. Sollten sie sich doch gegenseitig einreden, dass Emery das Schlimmste war, was sie jemals erlebt hatten.
Emery würde nicht aufhören. Niemals.
Weil Duffy recht hatte. Diese Kommentare hatten nichts zu bedeuten. Natürlich wusste Duffy nichts von dem Schuhkarton unter Emerys Bett, in dem die Ausdrucke von E-Mails, persönlichen Nachrichten und sogar einige echte Briefe lagen, die er von Jugendlichen bekommen hatte und in denen sie sich bei ihm bedankten. Weil er ihnen das Leben gerettet hätte. Weil er ihnen Kraft gegeben hätte, nicht aufzugeben in einer Welt, in der niemand auf ihrer Seite stand. Jugendliche, die von ihrer Familie aus dem Haus geworfen worden waren. Die in der Schule jeden Tag verprügelt wurden, die angespuckt wurden und erbarmungslos gehänselt.
Emery Klein war ein Vorbild für die vielen Jungs, die sich schämten, weil sie in der Schule Theater spielten oder Cheerleader werden wollten. Für die vielen schwulen Jungs, die nicht wussten, wo sie hingehörten. Für die vielen, die genderfluid waren und sich wieder und wieder anhören mussten, dass sie nicht normal wären und sich gefälligst für eine der gesellschaftlich akzeptierten Schubladen entscheiden sollten. Emery wusste verdammt gut, dass er etwas Größeres repräsentierte als nur sich selbst.
Es war nicht so, dass er gerne Angst hatte. Und er wollte definitiv nicht sterben. Aber wenn er starb, würde er ein Vermächtnis hinterlassen, das ihn überlebte. Dessen war er sich sicher.
Jemand wie Scout Duffy – ein blauäugiger, typischer amerikanischer Mann – mochte über die Idee spotten, dass die Welt auch Vorbilder wie Emery brauchte. Das war kein Problem. Emery musste ihm nichts beweisen. Er musste sich nur weiter den Arsch aufreißen und seinen Namen, sein Gesicht und seine Botschaft verbreiten, so weit und so lang er nur konnte.
Und im Moment bestand seine Arbeit darin, dieses gottverdammte Pulver loszuwerden, das die Spurensicherung in seiner Wohnung hinterlassen hatte. Es sah hier aus, als hätte jemand einen Sack Mehl ausgeschüttet.
»Weißt du was? Ich schaffe das schon«, sagte er und wischte weiter an seinem Türrahmen, ohne Duffy anzusehen. »Wenn du im Auto warten oder noch irgendwas anderes unternehmen willst, ist das in Ordnung.«
Wie aufs Stichwort schloss Duffy die Spülmaschine und drückte auf den Startknopf. »Schon gut«, sagte er. »Viele Hände machen die Arbeit leichter. Und das habe ich von meiner Ma gelernt. Ich kann die restlichen Türrahmen übernehmen, falls dir das recht ist. Dann kannst du schon mit dem Packen anfangen.«
Gottverdammt aber auch. Warum musste der Kerl alles so ruhig und unkompliziert angehen? Emery brauchte etwas Abstand und wollte allein sein, um diesen Mist zu verdauen. Ohne dass irgendwelche wohlmeinenden Freunde ihn umsorgten oder gar ein bezahlter Leibwächter ihn auf Schritt und Tritt beobachtete.
»Wenn du mich schon rumkommandierst, sollten wir vorher wenigstens ein Safeword vereinbaren.« Emery grinste und hoffte, Duffy mit dieser Anspielung auf schwule Kinks aus der Ruhe zu bringen. »Wusstest du schon, dass ich ein Sub bin? Ich stehe auf große, harte Männer, die das Kommando übernehmen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass du darin viel Erfahrung hast, oder? Du bist ein so guter Junge.«
Damit hatte er Erfolg. Duffy sah in definitiv stürmisch an, als er sich wütend die Hände abtrocknete. »Ich wische jetzt die Wohnungstür ab«, sagte er barsch. »Von außen. Lass mich wieder rein, wenn ich klopfe, ja?«
Gewonnen! Emery grinste, als Duffy an ihm vorbeimarschierte und sich einige Wischtücher aus der Packung nahm. »Selbstverständlich«, sagte er und konnte seine Schadenfreude kaum verhehlen. »Und wenn ich geputzt und gepackt habe, muss ich in der Stadt noch einige Dinge erledigen. Es macht dir doch nichts aus, mich zu chauffieren, oder?«
»Wie du meinst«, knurrte Duffy und schlug hinter sich die Tür zu.
Und wieder grinste Emery und redete sich ein, dass er gewonnen hätte.
Er merkte erst sehr viel später, dass er gar nicht recht wusste, was er eigentlich gewonnen hatte oder warum ihm das so wichtig war.
Scout
Als Scout gerade dachte, er und Emery hätten endlich Fortschritte gemacht, zog Emery diese beschissene Show ab. Scout umklammerte das Lenkrad und fuhr sie durch die gewundenen Straßen von Pine Cove zur Hauptstraße, ohne seinen Klienten auch nur eines Blickes zu würdigen.
Damit hatte Emery dem Ganzen die Krone aufgesetzt.
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