Letztendlich musste Scout auch anerkennen, dass es von Vorteil war, von Emery nicht erkannt worden zu sein. Es hätte Scouts Arbeit nur komplizierter gemacht und Emery gefährdet. Darauf konnte Scout gut verzichten, auch wenn er immer noch verletzt war. Es war kindisch, doch er wünschte sich, dass Emery das Besondere in ihm sah. Er wollte nicht einfach nur eine weitere Kerbe in Emerys Bettpfosten sein.
Allerdings wäre es auch eine große Hilfe, wenn Emery nicht schon seit Scouts Eintreffen mit verschränkten Armen vor ihm stehen und ihn so grimmig mustern würde. Und wenn Emery in seinem einfachen T-Shirt und der Jogginghose nicht so ganz anders aussehen würde als gestern. Bekleidet und ohne Make-up wirkte er um Jahre jünger. Verletzlicher. Scout war immer noch verdammt wütend, aber er empfand auch tiefes Mitgefühl.
Eines konnte man über seinen neuen Klienten mit Sicherheit sagen – er war weder langweilig noch berechenbar.
Emery war unverkennbar unglücklich darüber, dass er Scout heute Abend bei dem gemeinsamen Essen ertragen musste. Scout ließ sich dadurch nicht irritieren und widerstand der Versuchung, sich vorzeitig zu verabschieden. Er war hier und er hatte einen Job zu erledigen. Kurz darauf trafen einige von Emery und Avas Freunden ein, die sich sofort in der Küche zu schaffen machten. Scout hatte den Eindruck, dass sie seine Anwesenheit guthießen und froh darüber waren, dass Emery nicht schutzlos war. Ihm fiel auch sofort auf, dass die beiden Männer ein Paar waren.
Scout konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal außerhalb einer Bar oder eines Clubs mit einer ganzen Gruppe schwuler Menschen getroffen hatte. Er ging nicht auf Veranstaltungen für Schwule, nahm auch nicht am alljährlichen Pride-Umzug teil und hatte keine schwulen Freunde.
Die lästige Stimme in seinem Kopf erinnerte ihn daran, dass er überhaupt keine richtigen Freunde hatte. Das war eine der unvermeidbaren Folgen seines ruhelosen Lebens. Scout hatte seine Berufswahl getroffen und musste mit den Konsequenzen leben. Er wollte sich dafür nicht bemitleiden. Immerhin hatte er noch einige Kumpels aus seiner Zeit als Profiboxer, auch wenn er mit ihnen fast nur noch über Facebook in Kontakt war.
Er genoss es, in einem privaten Zuhause bei Menschen zu sein, die sich nicht verstellen oder verstecken mussten. Es war Scouts eigene Entscheidung gewesen, nicht öffentlich über seine Sexualität zu sprechen. Er versteckte sich zwar nicht, aber er war der Meinung, es ginge niemanden etwas an, mit wem er schlief – von dem Mann in seinem Bett abgesehen. Es hatte keinen Einfluss auf seine Persönlichkeit oder die Fähigkeit, seinen Job auszuüben. Trotzdem hatte er großen Respekt für Menschen, die mit ihrer Identität nicht hinterm Berg hielten und stolz darauf waren.
»Welche Pläne haben Sie in Bezug auf Ihre Wohnverhältnisse?«, fragte er Emery und setzte sich auf einen Sessel. Emery saß immer noch auf dem Sofa, knuddelte den kleinen Hund und hatte – merkwürdigerweise – einen Igel auf dem Schoß sitzen. Scout dachte kurz darüber nach und stellte fest, dass es vielleicht doch nicht so merkwürdig war, wie es ihm auf den ersten Blick vorgekommen war. Ein stacheliges kleines Biest, das man nur mit Handschuhen anfassen konnte, passte schließlich genau zu dem Emery, den er bisher kennengelernt hatte.
Ava kam ins Zimmer zurück und drückte ihm ein Glas Limonade in die Hand, bevor Emery die Frage beantworten konnte. »Lassen Sie sich von ihm nichts gefallen.«
Scout sah zwischen den beiden hin und her. Emery rollte mit den Augen, ging aber nicht auf Avas Schelte ein.
Scout nickte ihnen zu. »Mr. Klein weiß, dass ich zu seinem Schutz hier bin. Er hat sich bisher durchaus kooperativ gezeigt.«
»Emery«, knurrte Emery und warf ihm einen mürrischen Blick zu.
Emery hatte schon einmal darum gebeten, mit seinem Vornamen angesprochen zu werden, aber es fiel Scout verdammt schwer, darauf einzugehen. Es war höchst unprofessionell, zumal er so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Emery von gestern Abend bringen wollte. Trotzdem, er wollte auch Emerys Wünsche respektieren und Emery konnte sich eindeutig nicht an den zweiten Grund für Scouts Distanziertheit erinnern.
»Entschuldigen Sie, Sir. Wir haben unsere Vorschriften.«
»Oh mein Gott! Sir ist genauso schlimm«, rief Emery und schlug mit der Hand aufs Sofa. »Emery reicht, ja? Fast wie Emily, nur mit einem R. Wir können uns duzen.« Er schüttelte den Kopf. »Lass mich raten. Du warst beim Militär?«
»Ich war Profiboxer«, stellte Scout richtig.
»Lass den Mann seine Arbeit tun«, mischte sich Ava ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Es schien ihre Standardhaltung zu sein. Scout hätte sie einschüchternd genannt, doch unter der grimmigen Fassade verbarg sich offensichtlich tiefe Sorge um ihren Freund. Scout mochte sie sehr. »Wir dachten, Emery könnte vorübergehend bei mir bleiben.«
»Und ich muss am Freitag eine Geschäftsreise antreten.« Emery sah ihn nicht an, als er das sagte. Er war ganz darauf konzentriert, seinem Igel mit dem Zeigefinger über die Schnauze zu streicheln.
Scout sah sofort, welche Probleme sich durch diese Pläne ergaben. Er hatte zwei grundsätzliche Einwände, die er normalerweise direkt angesprochen hätte. Aber er trug immer noch diese kleine Hoffnung in sich, dass Emery ihn vielleicht doch irgendwann mögen könnte.
Nun, diese Hoffnung sollte er sich besser abschminken. Er war nicht hier, um neue Freunde zu finden.
»Wenn dich jemand beobachtet oder abgehört hat, weiß er bestimmt auch, wo deine besten Freunde und Familienmitglieder wohnen.«
Emery schnaubte. »Ich gehe nicht zu meiner Familie«, sagte er. Dann fiel ihm auf, was Scout noch gesagt hatte. »Halt. Willst du damit sagen, dass Ava von diesem Arschloch Gefahr droht?«
Scout leckte sich über die Lippen und sah zwischen den beiden hin und her. »Potenziell schon«, gab er zu. »Ich will niemanden grundlos alarmieren, aber wir müssen wachsam sein.«
»Okay, dann ziehe ich in ein Hotel«, erwiderte Emery. »Aber er könnte Ava jetzt schon auf dem Radar haben, nicht wahr? Kannst du ihr irgendwie helfen?«
Scout war beeindruckt, wie sehr sich Emery um seine Freunde sorgte und sofort nach Lösungen für ihre Probleme suchte. Er hob die Hände und versuchte, die Lage wieder etwas zu beruhigen. »Selbstverständlich. Ich kann das Haus genau ansehen und mit dem Pförtner reden. Höchstwahrscheinlich ist der Angreifer nicht an ihr interessiert. Sein Ziel bist du und wenn du gehst, sollte Ava wieder in Sicherheit sein. Besonders, wenn wir noch einige Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«
Emery zog eine Augenbraue hoch. »Ja, gut. Ich buche dann ein Hotelzimmer für heute Nacht. Alles kein Problem.«
Das führte sie direkt zu Scouts zweitem Einwand. Er wollte sich seine Vorbehalte nicht ansehen lassen und gab sein Bestes, auch seinen Tonfall neutral zu halten. Der Punkt war nämlich, dass er Emery nicht aus den Augen lassen wollte. Und zwar aus mehr Gründen, als er sich selbst einzugestehen bereit war.
»Ich glaube nicht, dass du im Moment allein sein solltest. Du solltest rund um die Uhr bewacht werden, bis wir – also meine Firma, die Polizei oder das FBI, falls wir das einschalten wollen…«
»Kein FBI«, unterbrach ihn Emery resolut.
Scout neigte den Kopf. »In diesem Fall also, bis die Firma oder die Polizei den Angreifer identifiziert hat. Ich bin fest davon überzeugt, dass du diesen Schutz brauchst.«
Emery sah ihn entsetzt an. »Das meinst du doch nicht ernst, oder?«
Scout mochte etwas überdramatisch sein, doch das ließ sich nicht ändern. Außerdem wollte ein Teil von ihm Emery insgeheim dafür bestrafen, ihn so verdammt schnell vergessen zu haben.
»Ich will dir nicht im Weg sein oder lästig fallen. Es gibt bestimmt Situationen, in denen wir dich auch indirekt bewachen können. Aber noch ist der Angreifer auf freiem Fuß und wird sich nicht davon abhalten lassen, es wieder zu versuchen. Ich will nur sicher sein, dass wir unser Bestes geben.«
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