„Guck dir den mal an“, hörte er ein türkisches Mädchen, das ein Kopftuch trug und eine große Warze auf der Wange hatte, zu ihrer Freundin sagen. „Voll schwul.“ Sie kicherten.
Du mich auch , dachte Bastian genervt. Und er dachte es abermals, als ihm der nächste dumme Spruch von einem Typen in tiefsitzender Hose um die Ohren gekloppt wurde.
„Ey, biste schwul oder was?“
Bastian schaute auf sein Handy, dabei hatte er es erst vor wenigen Sekunden getan. 07:58 Uhr. Wo blieb Lucas? Hatte Bastian sich ihn etwa nur ausgedacht? Existierte Lucas überhaupt? Natürlich , dachte Bastian. Es ging ja gar nicht anders. Schließlich hatte Frau Pan mit ihm geredet. Oder war sie auch nur eine Einbildung gewesen? Für einen Moment hatte Bastian das Gefühl, verrückt zu werden. Hatte die Einsamkeit ihn etwa wahnsinnig gemacht? Schmollend blickte er zur Gemeindestraße. Wenige Autos sah er, aber keines, in dem sich Lucas befand. Plötzlich sah er einen Wagen mit quietschenden Reifen um die Ecke sausen. Als er genauer hinsah, erkannte er den Angebeteten auf dem Beifahrersitz. Er schien ein wenig verängstigt.
Elke stoppte den Wagen genau in dem Moment, als die Schulklingel ertönte. „Ich hole dich um zehn nach Eins ab“, sagte sie.
„Ist gut.“ Lucas nahm seinen Rucksack und stieg aus. Er erblickte Bastian und biss sich grinsend auf die Unterlippe.
„Halb zwei!“, rief Elke ihm nach, wartete jedoch vergebens auf eine Antwort.
Auf der Stelle bekam Bastian ein freudiges Lächeln ins Gesicht. Er wusste gar nicht, wo er zuerst hinsehen sollte. Auf Lucas‘ Schuhe? Die Hose? Das Hemd, das leicht im Wind flatterte und somit Haut offenbarte? Oder vielleicht in dieses Gesicht mit diesem spitzbübischen Lächeln?
„Na“, grüßte Lucas, der ganz locker auf ihn zulief. „Alles fresh?“
„Ja, klar“, erwiderte Bastian, der prompt mit einem Handschlag und einer anschließenden Umarmung begrüßt wurde. „Es hat schon geklingelt.“
Lucas betrachtete den Süßen und war ausnahmslos fasziniert. „Genau so musst du herumlaufen.“
„Ach, ist nichts Besonderes“, behauptete Bastian verlegen und sah an sich herab.
„Die Hose könnte noch einen Tacken enger sitzen, aber schon ganz gut.“ Er griff nach den Zigaretten aus seinem Rucksack.
„Ähm, es hat geklingelt“, erinnerte Bastian ihn.
Gleichgültig zuckte Lucas die Achseln. „Wartest, bis ich aufgeraucht hab?“
Ohne Bedenken nickte Bastian. Was würde er auch schon großartig verpassen, wenn er fünf Minuten später in die Klasse käme?
„Sieh an, der Kleine wird zum Draufgänger“, witzelte Lucas. „Du, sag mal.“
„Hm?“
„Was hast du in den letzten beiden Stunden?“
„Ähm, Ethik.“
„Ethik?“
„Jupp.“
„Was macht man da?“
„In der Regel labert die Lehrerin uns voll. Meistens dürfen wir auch Mandalas ausmalen.“
„Wow!“, meinte Lucas belustigt. „Da lernste fürs Leben, wa?“
„Es ist so langweilig“, gestand Bastian nörglerisch.
„Kann ich mir vorstellen. Hab Deutsch. Überleg, ob ich schwänzen soll.“
„Magste kein Deutsch?“
„Isch spresche“, sagte er mit verstelltem Akzent und lustiger Mimik, „kaum Deutsch, aber die da schprechen noch wenischer Deutschisch als isch und isch will rischtiges Deutschis lernen.“
Bastian kicherte vor sich hin.
„Und deshalb“, fuhr Lucas weiterhin mit dieser sehr gewöhnungsbedürftigen Aussprache fort, „isch am überlegen, ob isch machen blau und verbringen etwas Zeit mit disch, damit wir uns bessa kennenlernen gönnen und es mich ablenkt vor der Katastrophe, die misch nachher erwarten tut.“
„Tut“, wiederholte Bastian erheitert. „Gut jetzt!“ Sanft schlug er gegen Lucas‘ Oberarm. Endlich konnte er ihn wieder berühren.
Lucas streckte ihm scherzend die Zunge raus. „Also, was du sagen?“
Bastian musste nicht mal überlegen. „Klar, warum nicht?“
„Müssen nur sehen, dass ich nach Schulschluss genau hier stehe“, sagte er wieder normal redend.
„Wirst du wieder abgeholt?“
„Yep.“
„War das deine Mutter?“
„Scheiße, nein.“
„Okay, und wer war das dann?“
„Ach, nur eine Bekannte. Nicht so wichtig. Erzähl ich dir später mal.“
„Okay.“
„Wir haben noch gar nicht Handynummern ausgetauscht“, fiel es Lucas ein.
„Können wir ja in der Pause machen“, sagte Bastian, als er über die Schulter sah.
„Wirste nervös?“
„Was? N-Nein. Ich hoffe nur, dass die Tür noch nicht abgeschlossen ist.“
„Und falls doch, müssen wir die ersten beiden Stunden auch schwänzen.“
„Was?“ So viel Mut besaß Bastian dann doch nicht.
Lucas kicherte. „Scherz. Dann lass uns mal.“ Er setzte sich mit ihm in Bewegung und hätte ihn am liebsten an sich gedrückt.
Gerade als Bastian die Tür aufziehen wollte, musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass diese bereits abgesperrt war. „Ne, nä?“
„Zu?“ Lucas versuchte ebenfalls, zu öffnen. „Echt jetzt? Wir ham gerade mal sechs Minuten nach acht und die Tür ist zu?“
Den ganzen Tag schwänzen wollte Bastian mitnichten. „Dann lass uns vorne durch“, sagte er angespannt.
„Warte“, hielt Lucas ihn zurück. „Da kommen zwei Mädels.“
Als Bastian sah, um wen es sich handelte, war er sich sicher, dass diese Tussen ihm niemals die Tür öffnen würden. Schließlich handelte es sich um Aidin und Miranda. Sie kicherten und gingen einfach an ihnen vorbei.
„Hey!“, rief Lucas angesäuert und klopfte gegen die Scheibe.
Aidin blieb auf der Stelle stehen. „Komm, wir lassen nur den einen rein.“
Miranda kicherte. „Den gut Aussehenden auf jeden Fall.“ Sie trat auf die Tür zu und entriegelte sie. „Zu spät“, sagte sie in ihrer klugscheißerischen Art und machte einen Schritt zur Seite, damit der Hübsche eintreten konnte.
Bastian wollte Lucas folgen, aber dazu sollte es nicht kommen, denn Miranda stellte sich ihm machohaft in den Weg. „Du kommst hier nicht rein.“
Aidin lachte. „Die Tür bleibt für Schwulis heute geschlossen.“
Lucas dachte sich verhört zu haben. Er wandte sich zu den beiden Weibern um, die vor Bastian standen und sich weigerten, ihn hereinzulassen.
„Guck mal, wie der wieder guckt“, machte Aidin sich über Bastian lustig.
„Der heult gleich“, war sich Miranda sicher. „Was war das gestern überhaupt, häh?“, fragte sie. „Von wegen du hättest gegen Dinge gepinkelt, die schlauer wären als ich? Häh?“
Bastian traute sich nicht, ihr zu antworten.
Lucas kam sich wie in einem schlechten Film vor. Ohne Wenn und Aber drückte er die beiden frechen Mädchen an den Schultern zur Seite, damit Bastian eintreten konnte.
„Ey!“, regte Aidin sich auf.
„Was fasst du mich an?“ Miranda stolperte beinahe über ihre eigenen Füße.
„Also du …“, sagte Aidin mit erhobenem Zeigefinger zu dem Typen, den sie keinesfalls von der Bettkannte gestoßen hätte, „bist mir jetzt richtig unsympathisch geworden.“
„Wäre schlimm, wenn es andersrum wäre“, gab Lucas mit angewidertem Gesicht zurück. Dass sie ihn darauf mit offenem Mund dämlich anstarrte, fand er innerlich urkomisch. Um sie noch mehr zu schocken, hielt er Bastian die nächste Tür auf und legte obendrein seinen Arm um dessen Schulter.
Hochrot lief Bastian an. In ihm breitete sich ein Gefühl von Geborgenheit aus, das jedoch schnell abflaute und sich in ein unwohles verwandelte.
„Ist das etwa sein Freund?“, hörten die beiden Jungs die Türkin entsetzt ihre Freundin fragen.
„Jetzt haben wir schon zwei Schwuchteln hier“, meinte Miranda abfällig. „Bah, der hat mich angefasst. Kriege jetzt bestimmt Aids!“
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