Meine Schwester war sofort begeistert. „Tolle Idee, die will ich auch sehen!“, rief sie mit strahlenden Augen.
Plötzlich standen unsere Eltern hinter uns. „Los, ab mit euch in die Autos, wir müssen gleich auf die Fähre!“, rief Heike.
Kurze Zeit später waren wir an Bord. Vom Bug aus beobachteten wir die Abfahrt. Am Ufer wurden die schweren Taue gelöst. Die großen Maschinen ließen das Schiff erzittern und bewegten es ganz langsam rückwärts. Ich schaute in das brodelnde Wasser. Nachdem es sich weit genug vom Anleger entfernt hatte, stoppte es, drehte die Nase in Richtung Ameland und begann, immer schneller Fahrt aufzunehmen.
Mit Lara und Katja lief ich über das Sonnendeck. „Wie viele Menschen wohl auf so einer Fähre mitfahren können?“, überlegte Katja laut.
„Hm, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Aber vielleicht können wir’s herausbekommen“, sagte ich.
„Super Idee“, meinte Lara. „Wir gehen nach oben und fragen einfach den Kapitän auf der Brücke.“
„Quatsch, das geht nicht, der ist doch beschäftigt.“ Katja runzelte die Stirn, ließ sich aber trotzdem überreden. Wir drängten uns an den Menschen vorbei nach oben. „Und wie sollen wir jetzt weiterkommen?“, fragte sie nach der Hälfte des Weges. „Die Kapitänsbrücke ist ja noch höher.“
Wir blieben stehen und schauten uns um, ob eine Treppe weiter nach oben führte. Dabei fielen mir zwei Männer auf, die irgendwie anders aussahen als die meisten hier. „Guck mal!“, flüsterte ich Katja zu. „Der hat eine echt komische Frisur.“
„Wieso?“
„Auf dem Kopf ganz kurz und hinten im Nacken fallen ihm die Haare fast bis auf die Schultern.“
Sie sah ihn genauer an. „Stimmt, der sieht nicht besonders nett aus. Und diese große Narbe auf der Backe, echt unheimlich.“
Der Mann war muskulös und groß, seine Arme, die er vor der Brust verschränkte, erschienen mir so dick wie Papas Beine.
„Wisst ihr, woran der andere mich erinnert?“, fragte Lara.
„Keine Ahnung.“
„An eine Kugel auf zwei Beinen, der ist ja nur klein, dick und rund“, kicherte sie.
Der Typ trug eine schwarze Sonnenbrille, einen hellen Anzug und einen großen Hut und redete andauernd auf den Großen ein. Außerdem wuchs ihm ein buschiger, schwarzer Schnauzbart unter der Nase.
„Der sieht aus wie ein Walross“, staunte Katja. „Was sind denn das für Typen? Los, mal hören, worüber die sich unterhalten!“ Sofort steuerte Lara auf die beiden Männer zu. Den Besuch auf der Kapitänsbrücke hatte sie vergessen. Wir gingen hinterher und stellten uns unauffällig zu ihnen an die Reling.
Der Dicke redete immer noch wild gestikulierend auf den anderen ein. „Was glaubst du eigentlich, warum wir hier sind? Du kannst doch auf dieser Scheißinsel keinen Urlaub machen. Wir müssen die Figur wieder auftreiben. Und wenn du nicht spurst, mein Lieber, werde ich auf der Stelle zum Handy greifen und unserem Auftraggeber sagen, dass du aussteigst!“ Seine Stimme überschlug sich fast. „Mir reicht es wirklich, ich will endlich die Kohle sehen, noch einmal lass ich mich nicht so abspeisen. Und wenn wir die ganze Insel umgraben müssen, um das verfluchte Ding wiederzufinden.“
Der mit dem langen Nackenhaar nickte und antwortete mit tiefer Stimme: „Ja, ja, Walter, ist gut, du hast recht. Wir machen es so, wie du sagst. Aber jetzt lass uns noch schnell einen dieser Marzipankuchen kaufen, dafür könnte ich sterben!“
„Vielleicht eher als dir lieb ist“, grummelte der Dicke drohend. Dann gingen sie unter Deck zur Schiffscafeteria.
„Was war denn das? Die zwei haben doch irgendwas Merkwürdiges vor!“ Lara wollte sofort hinter ihnen her.
„Stopp!“, rief ich. „Das geht nicht. Die merken, wenn wir sie schon wieder belauschen!“
„Stimmt.“ Katja nickte. „Ich glaube, es ist besser, wir erzählen erst mal den anderen davon.“
Wir wollten sie gerade suchen, da hörten wir auf Holländisch eine Durchsage: „Wir werden in wenigen Minuten Ameland erreichen, bitte begeben Sie sich in ihre Kraftfahrzeuge!“
Mama und Papa kamen uns zusammen mit den Franzens und Münstermännern entgegen. „Wir haben euch gesucht. Ihr könnt doch nicht einfach verschwinden!“ Mama machte sich manchmal etwas zu viele Sorgen. Schließlich konnte man auf dem Schiff nicht weglaufen und außerdem fuhren wir ja nicht das erste Mal nach Ameland. Wir gingen zu unseren Autos.
„Am besten treffen wir uns nachher am Strand!“, rief Katja.
Ich nickte und stieg ein.
Meike saß schon auf ihrem Platz. „Wo seid ihr gewesen?“, fragte sie neugierig.
„Das erzähle ich dir später“, antwortete ich und sah sie dabei durchdringend an, damit sie mich jetzt nicht mit Fragen löcherte.
Mama und Papa sollten von unserer Beobachtung nämlich nichts mitbekommen. Zu meinem Erstaunen verstand sie mich und schwieg. Vorne öffnete sich die Bugklappe der Fähre, die Autos wurden gestartet, jeden Augenblick konnte es losgehen. Endlich kamen wir an die Reihe.
Wie immer fuhren wir nach Hollum, dem größten Ort auf Ameland im Westen der Insel. Schon die Fahrt auf der kleinen Inselstraße war unser erstes Urlaubserlebnis. Wir freuten uns auf unseren Huckel kurz vor Ballum, eine kleine Erhöhung auf der Straße. Meist saß Papa dieses letzte Stück am Steuer.
„Achtung, jetzt!“ Er beschleunigte, damit wir das Gefühl hatten, mit dem Auto etwas zu fliegen.
„Hüüüüüüüüpp!“, riefen wir im Chor, hoben ab und hatten die Erhöhung einen Augenblick später hinter uns. Dann folgte seine Standardfrage: „Seht ihr eigentlich schon den Leuchtturm?“
„Da vorne, auf der linken Seite!“, rief Meike. Sie hatte wie immer den Leuchtturmsuchwettbewerb gewonnen und damit das erste Eis der Sommerferien.
Schließlich erreichten wir die Ortseinfahrt von Hollum und kamen an dem Backfischgeschäft vorbei. Sofort stieg mir der würzige Geruch in die Nase. Das Rettungsbootmuseum auf der anderen Seite lag still im Sonnenlicht. Wir fuhren um den Ortskern herum zu unserem Ferienhaus. An der alten Kirche stellten wir unser Auto ab und gingen zum Haus unserer Vermieter.
*
*
Wim und Henny de Jong, ein freundliches, älteres Ehepaar, wohnten seit ihrer Geburt auf Ameland und verließen die Insel nur ganz selten.
Sie kamen uns schon entgegen. „Goeden Dag, da seid ihr ja endlich!“, begrüßte uns Wim. „Ich hatte schon Angst, ihr wollt dieses Jahr nichts mit uns zu tun haben.“ Er drückte meine Hand, als wollte er sie zerquetschen, und zog mich an seinen großen dicken Bauch, den er unter seinem weiten Strickpullover kaum verstecken konnte.
Henny umarmte Mama und Papa und strich Meike mit ihrer Hand über den Kopf. „Dann kommt mal rein!“, lud sie uns ein und wir betraten das Häuschen, dessen Eingangstür so niedrig war, dass Papa aufpassen musste, sich nicht den Kopf zu stoßen.
„Es ist schön, wieder bei euch zu sein“, sagte Mama. Sie saß auf dem kleinen, braunen Sofa und streckte sich behaglich aus. Der Duft von holländischem Kaffee lag in der Luft. Wegen der kleinen Fenster kam nicht viel Licht in die Küche. Wahrscheinlich wirkte es hier deshalb auch nicht ganz so sauber wie bei uns, aber Meike und ich fanden es voll gemütlich.
Henny servierte den Kaffee in kleinen Tassen mit blauen Windmühlen. „Was wollt ihr Kinderen denn trinken?“, fragte Wim.
„Am liebsten Cassis“, meinte Meike, „bei euch schmeckt er am besten.“ Wir liebten diese Limonade mit Johannisbeergeschmack.
„Wie war eure Reise?“, erkundigte er sich, während er eingoss. Papa und Mama begannen zu erzählen und sofort vertieften sich die Erwachsenen in ein Gespräch.
„Komm, wir gehen nach hinten und gucken uns unser Zimmer an. Außerdem will ich unbedingt wissen, wie es Gelbes P. geht!“, sagte Meike.
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