Die Müllerstochter hat im Märchen den richtigen Namen gefunden. In der Geschichte vom Rumpelstilzchen hat sie ihn ausgesprochen. Dort heißt es: Ende gut, alles gut. Doch was im Märchen so einfach klingt, erscheint im richtigen Leben unmöglich. Schließlich ist es unsere Hilflosigkeit, die uns sprachlos macht. Aber wie bekomme ich diese Hilflosigkeit in den Griff?
Kann der uns sehen?
„Was machst du da?“ Der vierjährige Ronny steht auf dem Rand der Korbschaukel des Kindergartens und beobachtet die gleichaltrige Svenja, die rücklings in der Schaukel liegt und Handküsse nach oben verteilt. „Ich schicke meinem Papa Küsschen. Der ist nämlich tot und wohnt jetzt im Himmel.“ Ronnys Blick wandert ebenfalls nach oben und er schaut angestrengt in die Luft. Kurze Zeit später beginnt er die Schaukel weiter anzuschubsen, bis sie sich wieder schwungvoll bewegt. „Kann der uns sehen?“
„Klar kann der uns sehen“, antwortet meine Tochter.
Es dauert eine Weile, bis Ronny ein weiteres Mal innehält. „Bäääh“, macht er und streckt die Zunge raus. Dann reckt er den Kopf in den Himmel und wartet ab, ob dort etwas passiert. Oben bleibt es ruhig, aber unten springt Svenja mit einem Satz von der Schaukel auf: „Hey, du darfst meinem Papa nicht die Zunge rausstrecken.“ Empört steht sie Ronny gegenüber.
Dieser grinst sie an und antwortet kess: „Wieso? Der ist doch tot.“
„Na und. Das darfst du trotzdem nicht!“ Das lautstarke Geschrei der beiden Kinder weckt die Aufmerksamkeit einer Erzieherin und die beiden Streithähne werden aus der Schaukel gezogen.
Als mir diese Situation wenig später beim Abholen von einer Erzieherin geschildert wird, muss ich herzlich lachen. Mehr noch, als ich das immer noch empörte Gesicht meiner Tochter sehe, die mir wutschnaubend im Garderobenraum entgegenläuft. Äußerlich verhalte ich mich ruhig, verkneife mir ein Grinsen und nehme ihren Ärger ernst. Ich drücke sie fest an mich und höre einfach zu. Ich bin stolz auf sie. Sie verteidigt ihren Papa genauso, wie sie es getan hätte, wenn er noch leben würde. Auch über einen toten Papa darf man diskutieren, denn nur so bleibt er in den Gedanken lebendig. Auch wenn sie sich heute geärgert hat: Ich wünsche ihr einfach noch viele weitere Situationen, in denen sie von ihrem Papa erzählen und ihn somit an ihrem Leben teilhaben lassen kann. Und für den kleinen Ronny hoffe ich, dass er seine unbekümmerte, etwas freche, aber ebenso neugierige Art weiterhin bewahrt.
Hilflosigkeit und Unsicherheit können überwunden werden. Kinder zeigen uns, wie es geht. Sie besitzen eine Unbefangenheit und Sorglosigkeit, die sich in ihrer Sprache wiederfindet. Sie handeln spontan und äußern ihre Worte ohne Hintergedanken. Gerade mit den Tabuthemen unserer Gesellschaft haben Kinder keine Berührungsängste. Sie nehmen sie, wie sie kommen, und fragen nach, wenn ihnen etwas Außergewöhnliches auffällt.
„Warum seid ihr denn nicht mehr zusammen? Mögt ihr euch nicht mehr?“ Oder: „Was passiert denn, wenn man tot ist?“ Und: „Tut das sehr weh?“ Kinder finden die richtigen Worte, nicht nur vage Umschreibungen. Die Erwachsenen empfinden diese Direktheit oft als sehr erfrischend und willkommen. Wenn Erwachsene ihre Gespräche nur genauso gelassen wie Kinder führen könnten! Dann hätten sie sicherlich nicht mit ihrer Sprachlosigkeit zu kämpfen. Dann würden sie selbst besser mit Schicksalsschlägen zurechtkommen und auch anderen, die in Krisensituationen geraten, besser helfen können.
Erwachsene haben diese Direktheit und Unmittelbarkeit verlernt. Bevor sie nur den Mund aufmachen, sind sie oft schon gedanklich zwei Stufen weiter und das „könnte“, „sollte“, „würde“ steht ihnen im Weg. „Wie wird sie reagieren, wenn ich sage, dass es mir so leidtut, dass ihr Kind diesen schweren Unfall hatte?“ Oder auch: „Es ist doch viel zu banal, wenn ich ihm sage, dass ich es furchtbar finde, dass seine Firma Pleite gemacht hat und er nun auf der Straße sitzt und sie vermutlich das Haus verlieren werden.“ Sie meinen: Bevor ich etwas Falsches sage, spreche ich lieber gar nicht. Sie schlucken lieber den ersten Satz hinunter, anstatt ihn fließen zu lassen. Und wenn der erste Satz fehlt, kommt auch kein zweiter mehr nach. Am Ende sagt niemand mehr etwas. Alle tun so, als ob nichts wäre. Schrecklich!
Durch Sprachlosigkeit wird eine Krise nur verschärft oder verkrampft. Niemandem hilft das. Gerade wenn jemand möglichst feinfühlig sein will und nur noch auf Zehenspitzen herumläuft, kann es denjenigen, der in der Krise steckt, wahnsinnig machen.
Ist es wirklich so einfach? Können Menschen die Dinge wirklich allein mit Worten wieder in den Griff bekommen? Nein, allein mit Worten geht das natürlich nicht. Aber sie sind der notwendige erste Schritt zurück in ein lebenswertes Leben. Ohne diesen ersten Schritt geht es nicht weiter.
Nur im Dialog hat man die Chance, andere an Ängsten und Sorgen teilhaben zu lassen. Das Unglück wird dadurch nicht ungeschehen gemacht, es wird aber auf mehrere Schultern verteilt. Im Gespräch mit anderen erfahren wir, dass Menschen Trost spenden und Mut machen können. Eigene Gedanken können sortiert werden und lassen sich manchmal danach in einem anderen Licht sehen.
Erst ein Jahr nach Andis Tod habe ich eine Gesprächstherapie begonnen. Es war ein Angebot der Evangelischen Kirche in einer psychologischen Beratungsstelle. Anfangs war es eine Kopfentscheidung. Ich war skeptisch und eigentlich der Meinung, so etwas nicht zu benötigen. Aber ich merkte, wie gut es mir tat, reden zu können. Ein Jahr lang hatte ich immer wieder die Möglichkeit, mir meine Sorgen von der Seele zu reden. Und zwar bei einer neutralen Person, die, egal was ich sagte, Verständnis für mich aufbrachte. Ich habe in diesem Jahr Halt gefunden und viel gelernt, vor allem über mich selbst. Wie gut, wie erlösend wäre es gewesen, hätte ich solche Gespräche auch mit Andi führen können. Doch weil wir seinen nahenden Tod weit von uns schoben, haben wir uns dieser Möglichkeit beraubt.
Während der Erkrankung meines Mannes haben wir über vieles gesprochen und das Nötige geregelt. Doch statt uns mit unseren persönlichen Gefühlen zu beschäftigen, kümmerten wir uns um Dokumente. Wir redeten über ein Testament und eine Vorsorgevollmacht, aber nicht über uns. Den Tod haben wir so zwar theoretisch abgehandelt, doch trotzdem immer auf Distanz gehalten. Wir haben viel über die Zukunft nachgedacht und darüber, was wir machen wollen, wenn diese schlimmen Monate der Therapie endlich vorbei sind. Zwei tolle Urlaube hatten wir in der Vergangenheit in Kanada verbracht. Dort sollte es so schnell wie möglich noch mal hingehen. Das war ein großes Ziel. Dass einer von uns die Zukunft vielleicht nicht mehr erleben kann, haben wir einfach außer Acht gelassen.
Ich halte grundsätzlich sehr viel davon, positiv zu denken. Doch mit einem übertriebenen Optimismus läuft man Gefahr, die Wahrheit auszublenden. Es ist sicherlich auch normal und hilfreich, wenn man in schwierigen Situationen nach vorne blicken muss. Doch es hört dann auf, wenn man einfach die Augen schließt. Hätten wir in Andis letzten Wochen und Monaten den Tod nicht ausgeblendet, wäre uns die Möglichkeit des Abschieds geblieben. Wir hätten noch mal in Worte fassen können, was uns das gemeinsame Leben geschenkt hat, was uns wichtig ist und wovor wir Angst haben. Es wäre ein Trost gewesen, vor allem im Nachhinein – für mich. Über seinen bevorstehenden Tod zu sprechen, wäre nicht einfach gewesen, aber diese Worte hätten uns Kraft geschenkt, da bin ich mir heute sicher. Aber wir fanden nicht den Mut dazu.
Aber auch wenn man weiß, dass man die Dinge beim Namen nennen muss, dass man im Gespräch auf lange Sicht Linderung erfahren wird, ist damit die Angst vor den Worten noch nicht verflogen. Wo kommt die eigentlich her?
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