1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 In unserer knapp bemessenen Freizeit arbeiteten wir als freiwillige Helferinnen im örtlichen Flüchtlingszentrum, einer Einrichtung, die französische Flüchtlinge unterstützte, die aus dem Osten Frankreichs nach Poitiers strömten. Auf der Flucht vor den Deutschen hatten Hunderttausende ihre Heimat verlassen. Stéphanie und ich hatten uns kurz nach unserer Ankunft in Poitiers freiwillig gemeldet. Wir verbrachten viele Stunden in diesem Zentrum am Bahnhof und kümmerten uns um die Hunderte Menschen, die täglich eintrafen. Als wichtiger Knotenpunkt auf der Bahnstrecke zwischen Paris und Bordeaux war Poitiers nicht nur als Evakuierungsort für Flüchtlinge aus Metz bestimmt worden, sondern auch als Durchgangsstation für alte Männer sowie Frauen und Kinder, die hier ein oder zwei Tage Rast einlegen konnten, bevor sie in die ihnen zugewiesenen Städte im Westen oder Süden weiterreisten. Da wir selbst Flüchtlinge waren, hatten wir Mitleid mit diesen Menschen und versuchten, ihnen ihre Situation zu erleichtern, indem wir für die Elsässer und Lothringer, die kaum Französisch sprachen, dolmetschten.
Wir wurden sofort herzlich aufgenommen von den jungen Männern und Frauen des örtlichen Jugendherbergswerks, die dort ebenfalls als Freiwillige arbeiteten. Unter ihnen war Nonain, ein kleinwüchsiger Kommunist, der lautstark über Hitler und die Brutalität seiner Armeen herzog.
»Dieser Dreckskerl ist einfach größenwahnsinnig«, wetterte er. »Er wird keine Ruhe geben, bis er ganz Europa in Schutt und Asche gelegt hat.« Er verteidigte vehement die kommunistischen Anschläge gegen die Faschisten in Italien, Spanien und Deutschland und war äußerst besorgt wegen der Auswirkungen des Hitler-Stalin-Pakts.
Über Nonain lernten wir Heinrich kennen, einen großen blonden Deutschen, der wegen seiner kommunistischen Überzeugung seine Heimat und seine Familie verlassen hatte und seine Arbeitsstelle aufgeben musste. Er war sogar in Spanien gewesen und hatte sich den Republikanern im Kampf gegen Franco angeschlossen. Seit 1936 hatten meine älteren Geschwister und ich die republikanische Armee sowohl moralisch als auch finanziell unterstützt. Wir mochten Heinrich, wir wussten, wie es war, aus seiner Heimat vertrieben zu werden. Deshalb hatte er unser ganzes Mitgefühl. Er sah gut aus, hatte leuchtend blaue Augen und eine Schwäche für Cécile, die ihn ihrerseits links liegen ließ. Meine Eltern hingegen waren ihm zugetan. Durch ihn hatten sie die seltene Gelegenheit, Deutsch zu sprechen, und so luden sie ihn häufig zu uns zum Essen ein. Dann diskutierten wir meist angeregt über Politik. Es imponierte mir, wie ergreifend er von seinen Überzeugungen sprach, und ich bedauerte es, dass nicht alle Deutschen so waren wie er.
»Warum bist du eigentlich so unfreundlich zu Heinrich?«, fragte ich eines Abends Cécile in der Küche, nachdem er den Abend bei uns verbracht hatte.
»Weil ich ihm nicht über den Weg traue«, erklärte sie kategorisch.
»Aber Cécile!«, rief ich. »Du kannst doch nicht allen Deutschen misstrauen. Heinrich empfindet gegenüber Hitler das Gleiche wie wir. Oft ist er der Erste, der ihn kritisiert.«
»Das ist mir egal«, erwiderte sie. »Ich traue ihm trotzdem nicht.« Und dabei blieb sie.
Fast ein ganzes Jahr lang passierte nichts, was die tägliche Routine unseres neuen Lebens in der französischen Provinz gestört hätte. Der Laden ernährte uns, die Flüchtlinge kamen und gingen, und unsere Freundschaften mit anderen jungen Leuten wie den Mitgliedern des örtlichen Jugendherbergswerks vertieften sich. Wenn wir in der Natur wanderten oder im Clain schwammen, vergaßen wir fast, dass unser Leben bedroht war. Wir veranstalteten Picknicks im Park, zelteten mit unseren Freunden und kamen anschließend müde und glücklich nach Hause, wo wir von weiteren müßigen Tagen träumten.
Währenddessen ging der Sitzkrieg weiter: Die französischen Truppen hatten sich hinter der Maginot-Linie verschanzt, die deutschen hinter dem Westwall. Von kleineren Scharmützeln abgesehen, verharrten sie in ihren Stellungen. Großbritannien hatte mehrere Hunderttausend Soldaten nach Frankreich geschickt, um unsere Verteidigung zu stärken, während die tapferen Finnen in Skandinavien ihr Bestes gaben, um die plündernden Russen zurückzudrängen. Zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg wurden die Lebensmittel rationiert, es gab eine Verdunkelungspflicht bei Fliegeralarm und wir lernten, wie wir uns bei Giftgasangriffen zu verhalten hatten.
Im Frühjahr 1940, als Hitler in Dänemark und Norwegen einmarschierte und Holland und Belgien kurz darauf in einem Blitzkrieg eroberte, nahm die Bedrohung für uns konkretere Gestalt an. Wir dachten an Jacquies kleine Schwester Mindele, die irgendwo in den Niederlanden lebte, und bangten um ihre Sicherheit.
Zum Glück war Jacquie zu jung, um die Folgen der deutschen Überfälle zu begreifen, und so beruhigten wir ihn jedes Mal, wenn er nach seiner Familie fragte, mit irgendwelchen Ausflüchten. Trotzdem war er verbittert darüber, dass seine Mutter ihn und seine Geschwister »im Stich gelassen« hatte. Oft klammerte er sich an meine Mutter und fragte: »Tante, das hättest du nie gemacht, oder?« Sie erklärte ihm dann, dass seine Mutter keine andere Wahl gehabt hatte, aber das schien er nicht zu verstehen.
Jeden Abend drängten wir uns ängstlich um das Radio in banger Erwartung der Nachrichten von Radio France. Wir erfuhren von Chamberlains Rücktritt in London und seinem Nachfolger Winston Churchill, vom Vormarsch der deutschen Truppen nach Nordfrankreich und den Massenevakuierungen französischer und britischer Einheiten aus Dünkirchen. Calais und Boulogne fielen an die Deutschen, die anschließend den ganzen Nordosten, einschließlich Metz, besetzten. Wir dachten oft an unser Haus in der Rue du Maréchal-Pétain, an unsere Freunde, die zurückgeblieben waren, und an Großpapas kostbare Bibliothek. Unser Premierminister Paul Reynaud trat zurück und Pétain, ein Held aus dem Ersten Weltkrieg, nach dem auch unsere Straße benannt war, kam an die Macht.
»Wir leben in aufregenden Zeiten«, sagte ich eines Abends atemlos zu meiner Mutter, nachdem wir das Radio ausgeschaltet hatten und in völliger Stille dasaßen.
»Etwas weniger aufregende Zeiten wären mir lieber«, erwiderte sie knapp und wandte sich wieder den Socken zu, die sie gerade stopfte. Mein Vater lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen.
In meinem damaligen Optimismus war ich davon überzeugt, dass unserer Familie nichts passieren konnte, solange wir als Nation den Deutschen Paroli boten. Wir waren weit genug südlich, um vor dem Feind sicher zu sein. Wir lebten ein Leben, das wir uns vor etwa einem Jahr nicht hätten vorstellen können. Wir arbeiteten hart und vergnügten uns am Wochenende. Mein Pazifismus war ungebrochen. Aber im Mai 1940 änderte sich die Situation schlagartig.
Jeden Morgen gingen Cécile und ich den Hügel hinunter zum Bahnhof und dann auf der anderen Seite wieder hinauf zu unserem Laden, wo wir den ganzen Vormittag unsere Kunden bedienten. Unsere Mittagspause verbrachten wir zu Hause bei unseren Eltern, aber nachmittags kehrten wir wieder zum Laden zurück. Die Tage waren lang und die Arbeit anstrengend, aber wir verdienten genug, um unseren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Außerdem war ich mir sicher, dass unsere Situation nicht von Dauer war, sondern dass wir bald nach Metz zurückkehren und unser normales Leben wiederaufnehmen würden.
Eines Nachmittags verließen Cécile und ich wie üblich das Haus, als meine Schwester die Ladenschlüssel aus ihrer Tasche fischte und sagte: »Marthe, geh schon mal vor und schließ den Laden auf. Ich will nur schnell bei Madame Guillaume vorbeischauen und die Miete bezahlen. Das dauert keine zehn Minuten.«
Ich nahm die Schlüssel, winkte ihr zum Abschied und machte mich auf den Weg. Es war ein sonniger, klarer Tag. Ich beobachtete, wie die Wolken über den tiefblauen Himmel zogen, und lauschte den Vögeln, die ihre Frühlingsserenaden sangen. Als ich die Stufen zur Fußgängerbrücke hochstieg, die über die Gleise führte, warf ich einen Blick nach unten. Das Bahnhofsgelände war voller Menschen. Ein Versorgungszug war eingetroffen und überall wimmelte es von Soldaten. Tausende Flüchtlinge standen auf den Bahnsteigen und warteten auf Züge, die sie weiter nach Süden bringen sollten. Heute waren es besonders viele, da auch unzählige Holländer und Belgier vor den deutschen Invasoren geflohen waren.
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